Dietger Lather
Österreich braucht Migration,
statt von den eigenen Fehlern abzulenken.
Essay
Bei Kaffee und Tee im Café Central in Innsbruck traf ich mich zum Kennenlernen mit Alois Schöpf. Wir unterhielten uns über Vieles, auch über Migration. Auf elf Jahre blicke ich zurück, in denen ich Flüchtlinge unterstützt habe und ihnen weiterhin helfe.
In diesen Jahren wurde mir in dem damaligen Netzwerk in Deutschland die Aufgabe angetragen, einen Forderungskatalog unserer Flüchtlingsinitiativen federführend zu erstellen. In ihm sind Maßnahmen zur wirksamen Integration von Flüchtlingen beschrieben. Vor drei Jahren wurde er veröffentlicht. Anhand dieses Kataloges möchte ich in drei bis vier Teilen Migration und Integration thematisieren, angereichert durch persönliche Erlebnisse und aktualisiert.
Wir sitzen im Wohnzimmer einer syrischen Familie. Unsere Unterhaltung dreht sich um das Ankommen der Familie in der Stadt, um die Schule der Kinder, die Arbeit des Mannes und der Frau. Im Wohnzimmer hängt der große Flachbildschirm an der Wand. Ein arabischer Sender ist eingeschaltet, tonlos.
Warum er sich die Bombardierung dieser Stadt anschaue, frage ich den Vater, nach einem Schluck schwarzen, mit Kardamon gesüßten Tee. Er zeigt auf ein Haus der Stadt. Dies sei sein Elternhaus, in dem sie gelebt hätten, und er wolle sehen, ob es das Bombardement überstehen würde. Ein Bruder würde dort noch leben und nach dem Rechten schauen.
Diese Momente muten surrealistisch an. Auch nach Jahren ehrenamtlicher Unterstützung von Flüchtlingen und vielen Fluchterzählungen. Ich schweige und versuche, zu verdauen, was ich soeben vernommen hatte. Der Vater bricht die Stille. Es sei nicht das erste Mal, ein Bombardement live zu sehen. Bisher sei alles gut gegangen. Inschallah bin ich versucht, zu antworten.
Die Begegnung liegt Jahre zurück. Sie könnte aktuell sein. Das Gebiet um Idlib ist nach dem Sturz Assads wieder Kampfgebiet geworden, initiiert durch die Türkei. Jüngst waren die Massaker an der alawitischen Minderheit in den Schlagzeilen, wer auch immer sie verursacht hat.
Von Frieden ist Syrien weit entfernt, was natürlich Politiker nicht davon abhält, die sofortige Abschiebung von syrischen Flüchtlingen zu fordern. Schließlich sei Assad geflohen. Es ist ein Land im Umbruch, das auch in der Zukunft immer wieder Gewaltausbrüche erleiden wird. Zu tief sind die Verwundungen, die der jahrzehntelange Terror des Assad-Regimes geschlagen hat, als dass sofort alles verziehen sein könnte.
Hier in Innsbruck wollte ich eine russische Familie zum Interview beim BFA begleiten, dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Eine Vollmacht für jede Person, die begleitet wird, fordert das BFA auf seiner Webseite. So stelle ich drei aus, die unterschrieben wurden. Die Familie sagte mir, ich solle mich auf mehrere Stunden einstellen.
Getränke und etwas zu Essen möge ich mitbringen. Zwar schaute ich ungläubig, doch befolgte ich den Ratschlag.
Kurz vor dem anberaumten Termin stand ich vor der Eingangstür. Securitycheck. Ein kleiner Warteraum, Stühle, keine Tische und sehr schmale Gänge. Kein Getränkeautomat, keine Kaffeemaschine und Wasser kann man in der Toilette zapfen. Die Euromünze ist wichtig, denn Taschen und Rucksäcke müssen eingeschlossen werden. Mir half die Security mit einen Chip. Nach sechs Stunden verließ ich das Gebäude wieder.
Der Eindruck des ungastlichen Willkommens verflüchtigte sich, als die Familie aufgerufen wurde. Ich erlebte eine sehr faire Befragung, in der zunächst die persönlichen Daten abgestimmt wurden. Es war notwendig, weil die Polizei vor zwei Jahren beim Ankommen in Österreich die Familiennamen falsch und unterschiedlich aufgeschrieben hatte. Familienmitglieder hatten plötzlich zwei Identitäten. Eltern und Kinder schienen zu verschiedenen Familien zu gehören. Der Vorname der Mutter war frei erfunden. Dabei waren Pässe vorgelegt worden.
Mich überraschte, wie viele Fehler darüber hinaus im ersten Polizeiprotokoll enthalten waren. Diese Fahrlässigkeit, zunächst vermutete ich Vorsatz, möchte es aber nicht glauben, bescherte der Familie über zwei Jahre hinweg ständig Schwierigkeiten. Sie werden hoffentlich nach dem Interview verschwunden sein. Nachdem die Familie zusammen befragt wurde, wurde der Vater zu einem Einzelinterview gebeten. Mutter und Kind verblieben im Warteraum. Es folgte eine fast neunzig Minuten dauernde Befragung.
Der Vater erzählte von seiner Verhaftung, der Folter, der Flucht. Neben einem Mann saß ich, der in allen Einzelheiten erzählte, wie er gefoltert wurde. Vom guten und bösen Polizisten, vom Spiel mit dem Erschießen, den Elektroschocks, der Drohung, die Familie zu verhaften, dem fensterlosen Verlies. Seine absolute Hilflosigkeit, sein Ausgeliefertsein, sein Hoffen und Bangen, die Nacht angekettet an ein Heizungsrohr, den Verlust des zeitlichen Empfindens schilderte er.
Nur sein Vermögen, zwanzigtausend Dollar und etliche Scheine der einheimischen Währung befreiten ihn aus dem Keller, die er den korrupten Polizisten in bar übergeben musste, bevor er ausgesetzt wurde. Ein guter Freund, der die Korruption kannte, bat ihn, die Polizisten nicht anzuzeigen. Es würde nur schlimmer werden. So floh er noch am gleichen Tag aus dem Land. Seine Familie vier Tage später.
Diesen Vater kenne ich gut. Sprach mit ihm über seine Zukunftswünsche, für die er intensiv deutsch lernt. Nicht nur dabei unterstütze ich ihn. Auch über seine Flucht sprachen wir, über seine Foltererlebnisse. Jetzt beim Interview sprach er anfangs gefasst, mit klarer Stimme. Doch als er begann, in unglaublicher Offenheit über die Details zu sprechen, übermannte ihn die Erinnerung, brach der Damm. Schluchzen, Seufzer, Tränen rannen über das Gesicht. Seine Stimme versagte immer wieder, sein Körper zitterte.
Neben ihn setzte ich mich, legte meinen Arm auf seine Schulter, streichelte ihn, versuchte ihm Halt zu geben, sagte, er solle Wasser trinken, seine Tränen laufen lassen, sie abwischen und nicht verzagen. Ich erlebte eine Retraumatisierung, die neunzig Minuten andauerte.
Als wir wieder im Warteraum ankamen, stiegen seiner Frau sofort die Tränen in die Augen. Sie kennt ihren Mann, weiß um sein Trauma und die Nächte, in denen er um sich schlägt. Die lange Wartezeit war auch für sie schwer zu ertragen. Wir sprachen über sein Trauma.
Seit elf Jahren unterstütze ich Flüchtlinge, Familien, Männer, Frauen und Kinder. Viele Fluchtgeschichten wurden mir in den elf Jahren erzählt, von Folter wusste ich. Von diesen neunzig Minuten träumte ich die nächsten Nächte. Sie lassen nicht unberührt. Wird diese Familie abgeschoben, wird der Vater in einem Gefängnis verschwinden und nie wieder auftauchen. Es wird die Familie zerreißen.
Beide Familien wollen bleiben. Die Männer arbeiten, die Frauen ebenso, die Kinder sind in der Schule und ein Mädchen ist Klassenbeste, ein Junge ausgezeichnet und in der örtlichen Presse vorgestellt.
Diese Geschichten werden zukünftig nicht mehr erzählt werden können. Familien werden nicht mehr zusammengeführt werden können. Ein sofortiger Stopp des Familiennachzuges wurde verkündet. Bundeskanzler Stocker steht nach seinen eigenen Worten voll hinter dieser absolut inhumanen Maßnahme. Er begründet es mit der Überlastung des Schulsystems durch die vielen fremden Kinder, die in den letzten zwei Jahren nach Österreich zogen.
Dabei kommen seit zehn Jahren Flüchtlingskinder ins Land. In all den Jahren trug die ÖVP Regierungsverantwortung. Wenn deren Vorsitzender und nun Bundeskanzler nach zehn Jahren Asylpolitik verbunden mit der Forderung nach Integration die Überforderung des Bildungssystems beklagt, begründet er mit eigenem Versagen eine inhumane Maßnahme, die noch dazu an der Bildungsmisere für in- und ausländische Kinder nichts ändert.
Das Schulsystem ist bereits überfordert, weswegen ein Stopp des Familiennachzuges daran nichts ändert. Der Stopp soll lediglich vom eigenen Versagen und Reformunwillen in der letzten Dekade ablenken. Symbolpolitik, mit der Flüchtlinge als Ursache vorgeschoben werden und damit nebenbei eine latente Fremdenfeindlichkeit verstärkt wird.
Daran ändern die unzähligen angekündigten Maßnahmen im Regierungsprogramm nichts, mit denen die gegenwärtige Situation verbessert werden soll. Es mangelt an Pädagogen, seit Jahren, um die politischen Forderungen umzusetzen.
Wenn dennoch Familienmitglieder zu Ihren Verwandten ziehen dürfen, sollen sie sich bereits zu Hause auf Österreich vorbereiten. Personen, die im Rahmen von Familienzusammenführung nach Österreich gelangen, lernen die deutsche Sprache und verinnerlichen die demokratischen und kulturellen Werte Österreichs, steht im Programm. Ein Aufschrei würde durch österreichische Länder hallen, wenn die Forderung nach kultureller Verinnerlichung an Österreicher gestellt würde, die sich für ein paar Jahre im Ausland aufhalten.
Die negative Beschreibung der Asylproblematik spiegelt sich im gesamten Regierungsprogramm wider. Ab Seite vierundsiebzig werden Asylbewerberinnen und Asylbewerber als mögliches nationales Sicherheitsrisiko beschrieben. Deutsch, Arbeit und Werte sind unverzichtbare Fundamente der Integration.
Soweit so gut. Doch weiter steht geschrieben, Österreichs Sicherheit und Wehrhaftigkeit gegenüber feindlichen Einflüssen von innen und außen müssen auf allen Ebenen verbessert werden. In dicken Lettern folgt die Kernaussage zur Asylpolitik.
Stopp der irregulären Migration und des Missbrauchs des Asylsystems.
Kein Wort, keine positive Aussage zur Migration. Seit Monaten ist keine einzige Erklärung von Politikern zu vernehmen, wie unbedingt notwendig Migration ist, um unseren Lebensstandard und die Sozialsysteme funktionsfähig zu halten. Dabei erlebt es jeder täglich. In den öffentlichen Verkehrsmitteln, im Servicebereich, im Gesundheitsbereich und bei den Handwerkern. Aus Angst vor dem Erstarken der Blauen, dem verhinderten Volkskanzler und der zu errichtenden Festung Österreich, traut sich niemand, diese Wahrheiten auszusprechen. Maximal wird auf Fachkräfte hingewiesen, die gewonnen werden sollen, aber realistisch beurteilt, nicht gewonnen werden können.
Es kommen Menschen, die Deutsch lernen müssen und anschließend eine Ausbildung benötigen. Fünf Jahre benötigt dies durchschnittlich, so die Erfahrungen mit Flüchtlingen. Aber alle, Politiker wie Medien stürzen sich darauf, wenn ein Verbrechen geschieht, an dem Migranten beteiligt sind. So schmerzlich ein Verbrechen ist, es bleibt ein Einzelfall.
Und wo bleibt die mediale und politische nationenweite Freude, wenn ein muslimischer Taxifahrer die Todesfahrt eines Mörders, der mit seinem Auto in Menschenmengen rast, mit seinem Auto stoppt?
Claudia Plakolm ist die Ministerin für Integration und Familie. Sie soll die Integration vorantreiben. Als erstes setzt sie sich für das im Regierungsprogramm geforderte Kopftuchverbot von Kindern im Volksschulalter ein. Es symbolisiert die Unterdrückung von Frauen, so ihre Feststellung im Interview mit der Tiroler Tageszeitung.
Sie möchte, dass die Kinder ein selbstbestimmtes Leben genießen können. In der Bibel wird an unzähligen Stellen festgestellt, das Weib ist dem Manne untertan. Schon bei Moses formuliert und prägnant im neuen Testament im Epheser Brief. Frau Plakolm muss folglich für ein Verbot des christlichen Kreuzes am Hals der Kinder eintreten, weil es die Unterdrückung aller christlichen Frauen symbolisiert. Das Kreuz in den Klassenzimmern der Volksschulen müsste aus gleichem Grund abgehängt werden. Insbesondere in Wiener Volksschulen, in denen Christen im Schnitt zu 36 Prozent vertreten sind.
Aber offensichtlich werden die Aussagen der Bibel nicht mehr sehr ernst genommen. Gleiches gilt für den Koran, den sie unzulässig auf die Auslegung von Islamisten reduziert. Zudem scheint sie sich nicht bewusst zu sein, dass sehr wohl eine kulturelle Prägung, nicht eine religiöse zum Kopftuchtragen veranlassen kann.
Der Begriff der Scham in der jeweiligen kulturellen Ausprägung ist in diesem Zusammenhang zu beachten. Letztlich verursacht diese Frau, die auch Familienministerin ist, unglaublichen Stress bei Kindern muslimischen Glaubens. Denn der Streit übers Kopftuch wird völlig unnötig in die Familien getragen. Ein Streit, den die Töchter verlieren.
Integration will sie erreichen, so zumindest ihre Aufgabe. Sie wird sie mit diesem Kopftuchverbot torpedieren. Sie fragt, wer sich eigentlich an einem Kreuz stören könne. Richtig, keine und keiner, der tolerant ist. Wer stört sich dann an einem Kopftuch. Genau, diejenige, die intolerant ist und eine Minderheit bei Volksschulkindern vertritt.
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Was in der öffentlichen Diskussion immer untergeht, ist, dass jeder Flüchtling ein Mensch ist. Mit gleicher Würde und gleichen Rechten wie wir alle geboren und mit dem Recht auf ein Leben in Freiheit und Sicherheit und ein Familienleben ausgestattet.
Was ausnahmslos immer vergessen wird, ist, dass wir mit Vernunft und Gewissen ausgestattet sind, die uns in die Lage versetzen sollten, in Solidarität miteinander unsere Probleme zu lösen.
1948 wurde das alles in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert und von der UNO-Generalversammlung beschlossen. Leider haben wir es inzwischen vergessen!