Christoph Themessl
Mein Hund mag die Kirche nicht.
Und das ist dank Pawlow verständlich.
Über den Behaviorismus und das Wum Wum Wum an Feiertagen

Vor hundertzwanzig Jahren hat der russische Arzt und Forscher Iwan Petrowitsch Pawlow für seine Lehre von den konditionalen Reflexen (Stichwort Pawlows Hund) den Nobelpreis erhalten. Ein Grundstein für die behavioristische Lerntheorie, die aus der modernen Pädagogik nicht mehr wegzudenken ist, war damit gelegt.

Genaugenommen hat Pawlow den Nobelpreis für seine Arbeiten über die Verdauungsdrüsen erhalten. Im Zuge dessen beobachete er an Zwingerhunden, dass diese nicht erst beim Anblick von Futter mit Speichelfluss reagieren, sondern – bedingt durch Gewohnheit – die nahenden Schritte ihres Besitzers (oder im späteren Experiment das Läuten einer Glocke) bereits dieselbe Reaktion hervorruft. Indem also für die Vorstellung ein zweites Geschehen oder Objekt mit dem Objekt der Lustbefriedigung in Verbindung gebracht wurde, wurde auch das Lustgeschehen auf dieses zweite Objekt erweitert. Dasselbe Prinzip gilt leider auch für Unlustgeschehen.

Man nehme zur Veranschaulichung unsere achtjährige Hüter-Hündin Bijou. Einige Male im Jahr, wenn in unserer Gemeinde traditionelle Kirchenfeste begangen werden, heißt es schon in aller Frühe in gewissen Abständen: Klingelingeling… Wum! Wum! Wum!… Klingelingeling… Wum! Wum! Wum!… Klingelingeling…

Der Heiligen Freud, der Tiere Leid! Die Hündin fängt zu zittern und zu hecheln an, verkriecht sich einmal im Badezimmer, einmal unter dem Bett. Inzwischen genügt es schon, dass mittags an einem gewöhnlichen Kalendertag die Kirchglocken läuten, um bei dem Tier ganz ähnliche Reaktionen hervorzurufen. Offenbar ist das Tier dem Glauben verfallen, dass das ohrenbetäubende Kanonenfeuer der örtlichen Schützen direkt aus den Glocken schieße bzw. zwangsläufig auf das Klingelingeling folgen müsse. Die Assoziation Glocken – Schützen-Knallen hat eine Kirchglocken-Phobie ausgelöst. So einen Vorgang nennt man seit Pawlow einen bedingten oder konditionierten Reflex.


Pawlow und der Mensch

Unser Leben ist voll solcher Assoziationen, im Guten wie im Bösen: die spezifischen Assoziationen oder Reaktionen sind Folgen einer individuellen  Lerngeschichte. Wenn das Leben mancher Menschen seelisch vergiftet ist oder andere Menschen über eine stetige Quelle von Lebensfreude zu verfügen scheinen, liegt der Grund dafür, zumindest für Behavioristen, genau hier. 

Im weiteren Sinne gilt dasselbe aber auch für ganze Gesellschaften, Traditionen oder Überzeugungen. Eine Kulturgeschichte setzt sich aus vielen individuellen und kollektiven Lerngeschichten zusammen. Wenn in gewissen Kulturen nun seit schon geraumer Zeit bewusst oder sehr häufig auch unbewusst der Glaube an einen jeweils einzigen Gott geteilt wird (Monotheismus), so kann man das als eine Form gesellschaftlicher Lerngeschichte oder einer gesellschaftlichen Konditionierung bezeichnen. 


Kultur als Lerngeschichte

Die Herrschaftsspitzen der alten Ägypter mochten ihre guten Gründe gehabt haben, einen obersten Sonnengott über alle anderen Götter zu stellen. Auch der griechische Philosoph Platon entwickelte gezielt seine Ideenlehre mit der obersten oder höchsten Idee des Guten.

Nach diesen wichtigen Vorarbeiten zu einem Monotheismus wurden den breiten Massen der Glaube an den einen Gott, wie er sich im Judentum, unter Christen und Mohammedanern später findet, anerzogen bzw. mündlich überliefert oder mittels entsprechender Einrichtungen angelernt. So verhält es sich auch mit dem Glauben an die eine Wahrheit oder eine Ursache (Monismus), welcher die westliche Wissenschaft bis hin zur Theorie des Urknalls (als Anfang der Welt) so stark geprägt hat. Auch der Glaube der meisten Menschen an die Sinnhaftigkeit der Monogamie (Einehe) entspricht eher einer bürgerlich geprägten Vorstellung als der Natur.

Es ist überhaupt auffallend, dass die westliche Erziehung, nicht zuletzt dank der Kirche, nahezu zwanghaft zum Monokulturellen tendiert, während bei so genannten Naturvölkern eher Polytheismus, Polygamie und Multi-Kausalität vorherrschen.


Kritik am Behaviorismus

Erkenntnisse der Verhaltensforschung oder des Behaviorismus werden häufig kritisiert, sind aber schwer zu widerlegen. Seitens der Philosophie war es vor allem Edmund Husserl, der darauf hinwies, dass sich ein Lebewesen unter natürlichen Bedingungen seine Wirklichkeit selbst kreiert und die Phänomene in einen individuellen Sinn- und Kausalzusammenhang stellt. Das reale Leben in relativer Freiheit – inwendig wie äußerlich stets multifaktoriell bedingt – sei nicht mit Laborbedingungen, Boxenhaltung, Verhörs-Einrichtungen, Zuchthausverhältnissen vergleichbar (und sollte auch nicht zu erzieherischen Zwecken unter ähnlichen Annahmen betrachtet werden).

Dennoch ist kaum von der Hand zu weisen, dass wir neben genetischen und sozialen Faktoren und Umweltbedingungen vom ersten Tage an durch Eindrücke und Einflüsse wie weiches Wachs unter einem Stempel geprägt werden. Erfahrungen, vor allem die frühesten, sind primär Impressionen. Expressiven Schutz müssen wir erst lernen aufzubauen. So hatte der US-Psychologe Martin Seligman Mitte der Siebziger die nahezu perfekte Theorie des Masochismus entwickelt. 


Gelernte Hilflosigkeit

Hunde, die im Experiment in Boxen gehalten wurden, wurden willkürlich über längere Dauer immer wieder Stromschlägen ausgesetzt, gegen welche die Tiere durch keinerlei Verhalten etwas unternehmen hätten können. Wurde im nächsten Experiment die Box schließlich geöffnet, so dass der Hund, wenn ihm erneut Stromschläge versetzt wurden, herausspringen hätte können, entschied er sich gegen die Freiheit und blieb beim Experimentator bzw. seinem Misshandler. Der Widerstand war gebrochen und die Theorie der gelernten Hilflosigkeit geboren. Man kann lernen, sich selbst zu helfen, und man kann lernen, sich selbst nicht zu helfen.

Mit der klassischen Konditionierung wurde seit Pawlow allerdings auch viel (gefährlicher) Unsinn getrieben, vor allem in den USA. Der oberste Glaubenssatz von Leuten wie John B. Watson oder F. Skinner, dass menschliches Verhalten in Reiz und Reaktion (stimulus – response) vollständig zerlegbar und so wie in den isolierten Boxen-Experimenten an den Versuchstieren (zumeist Ratten oder Hunde) konditionierbar sei, hat das Innen- oder Seelenleben der Lebewesen aus methodischen Gründen bewusst auf der Strecke gelassen. 

Was die (amerikanischen) Psychologen alles für die Geheimdienste (CIA) und das Militär trieben und treiben (Stichwort erweiterte Verhörmethoden), würde den Rahmen hier sprengen. Film-Klassiker wie Der Unbeugsame mit Paul Newman oder Einer flog über das Kuckucksnest mit Jack Nicholson geben ein recht gutes Bild der damaligen psychologischen Vorstellung von Erziehung und Besserung des Menschen. Wer es ganz genau wissen will und sich für die Aktivitäten einiger behavioristischer Psychologen im Dienste der US-Regierung nach dem Terroranschlag 9/11 interessiert, wird unter dem Stichwort Weiße Folter fündig.

In Summe aber hat der Behaviorismus, wenn man in Pawlows Hund nicht zu viel hineininterpretiert (was dem Forscher selber fernlag), eher Gutes gebracht. Waren es in der alten Schule noch (drohende) Peitsche, Schläge und ähnliche Strafen, die uns zur Leistung motivieren sollten, gibt man heute in Kindergärten und Schulen dem sprichwörtlichen Zucker den Vorzug. Man könnte sagen: die Rechtfertigung ethisch höchst fragwürdiger, teils grausamer Tierexperimente, welche die Verhaltensforscher im Namen der Wissenschaft machten, liegt in der Erkenntnis, dass man es mit Belohnung für das Erwünschte weiterbringt, als mit Bestrafung für das Unerwünschte.


Am Land ist es laut genug.

Um noch einmal auf die Kirchglocken zurückzukommen. Viele Tiere mögen die Kirche nicht, wenn sie gemeinsame Sache mit Wum-Wum-Wum macht. Das ist schade, denn sie steht ja für bedeutende Werte. Zumindest Vögel und Pferde, aber ich glaube auch die Katzen und Füchse und auf jeden Fall einige meiner engsten menschlichen Gefährten – Halbaffen wie ich selber – leiden unter der Klingelingeling-Wum-Wum-Wum-Cooperation, die uns Tirolern vom Tridentinischen Konzil und durch den Andreas Hofer-Mythos auferlegt wurde.

Als religiös gleichgültigem und, was Traditionen anbelangt, neutralem Menschen ging es mir hier selbstverständlich nicht darum, die Rituale der würdigen Institution zu bekritteln oder verbessern zu wollen. Aber ist eine aggressive Beschallung der Bevölkerung, deren Jüngste sie bestenfalls mit fragwürdiger Faszination, aber auch mit Schrecken aufnehmen, nicht kontraproduktiv? 

Und abgesehen davon: Ist das Leben am Lande nicht laut genug?

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Christoph Themessl

Christoph Themessl, Dr., geb. 1967 in Innsbruck, ist Schriftsteller, Philosoph und Journalist. Er arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und war mit seiner Firma PR-Zeitungen Themessl als Magazin-Produzent fünfzehn Jahre lang selbständig. Zu seinen Publikationen zählen: „Der Tod kann warten“ (Roman; 1997), „Bewusstsein und Mängelerkenntnis; Philosophische Psychologie für die Praxis“ (studia Verlag, 2013), „Als die Seele denken lernte“ (studia Verlag, 2016) und „Sinn- und Sinnlosigkeit. Die Entscheidung des philosophischen Praktikers“ (LIT Verlag, 2021). Themessl betreibt in Lans eine philosophische Praxis namens „Safe House – das Sorgendepot“ und arbeitet in der Behindertenhilfe des Landes Tirol.

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