Andreas Niedermann
Die Letzten ihres Standes
Tiger-Story

Ich verachte jedes Handwerk. Diesen Satz schrieb ein Genie. Es hieß Arthur Rimbaud (1854–1891), und mit gerade mal 19 Jahren wollte er auch kein Genie mehr sein. Wenigstens kein dichtendes. Keine Zeile mehr. Der junge Mann verlor sich in Afrika, widmete sich dem Waffenschmuggel und artverwandten Geschäften. 

Geschäften, nicht Handwerk. Es ist nicht überliefert, dass er jemals einen Finger krumm machte.

Mir gefiel dieser Satz. Ich verachte jedes Handwerk. Damit konnte man provozieren. Nur war ich kein Genie wie Rimbaud. Vielleicht eine Art Pumpgenie. Und dieser Genius trieb mich immer wieder an die Stätten und in die Mühen des gemeinen Handwerks. Maloche, um zumindest meine Kreditwürdigkeit zu erhalten. Aber ich hatte keinerlei Interesse an bezahlter Arbeit. Aber so ist es eben: Es ist manchmal ein harter Job, ein Genie zu sein. Aber keines zu sein auch. Ich hatte also häufig mit Handwerk zu tun.

Schlimm genug. Aber in Wirklichkeit war es noch ärger: Ich gab den Handlanger der Handwerker. Gehilfe eines maulenden Zimmermanns. Ziegelschlepper von verkaterten Maurern. Tafelablänger von zänkischen Schreinern. Oberflächenbearbeiter von Steinen, von schweigsamen Steinmetzen zugewiesen. Dachpappenrollenträger trunksüchtiger Dachdecker. Das ist für einen jungen Menschen ungesund. Diese Verachtung des Unabänderlichen. Sie gebiert Philosophen oder neurotische Selbsthasser.

Mehr als hundert Jahre nach Rimbaud war dann fast alles Handwerk. Das Handwerk des Schreibens, der Kameraführung, der Regie. Oder des Philosophierens. Im Gegenzug gab es die Kunst des Kabelschleppens und der Töpferei, Fliesenlegerkunst und die Kunst des Haareschneidens. Jawohl! Friseurkünstler und Dichterhandwerker. Nicht zu vergessen: das Handwerk des Tötens, des Geldeintreibens, der Buchführung, des Storylinings und des Betrügens. 

Möglich, dass dieser Nonsens dem einen oder der anderen auf die Nerven fiel. Und nach so vielen Jahren Handwerk bin ich immer noch arbeitsscheu wie jeder andere rechtschaffene Penner; immer noch wütend wie Adam, als Gott ihn aus Eden warf.

Handwerk ist absurd. Und doch zum Sterben schön.

Die aufregendste Fernsehsendung aller Zeiten heißt: «Der Letzte seines Standes». Wir sehen alten, lebenszähen Handwerkern bei der Arbeit zu; sehnigen Männern, die in wurmstichigen Manufakturen auf die überlieferte Art Filz herstellen; Frauen, die Hutbänder ziehen; Böttcher, die mit rasiermesserscharfen Äxten so kunstvoll auf halbe Baumstämme einschlagen, dass nach dem Matrjoschka-System immer kleinere Tröge entstehen. Es ist atemraubend und erschütternd. 

Als sähen wir in der Dämmerung den letzten Tiger durch die Taiga streifen.

Wir blicken, melancholisch geworden, in eine Welt ohne Abfall. Sie versinkt vor unseren Augen. Wir sehen es, aufgewühlt und begeistert. Wir können nichts dagegen tun und wissen: Diese kleinen Filme werden bleiben. Eine  Weile. Bis es irgendwann, in naher Zukunft,für solche Datenträger keine Abspielgeräte mehr gibt.

Diese Vorstellung hat etwas Närrisches.

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Andreas Niedermann

Andreas Niedermann, 1956 in Basel geboren. Nach einer Laborantenlehre einige Jahre in Europa unterwegs. Informelle Ausbildung zum Schriftsteller in genau 50 ausgeübten Berufen. U.a. als Steinbrecher, Alphirte, Kranführer, Kinobetreiber, Krafttrainer, Koch und Theatertechniker. Seit 1989 mit Familie in Wien lebend. Gründete 2004 den Songdog Verlag. Publizierte einige Romane, Storybände und Novellen. Zuletzt „Blumberg 2 (Die Wachswalze)“ bei Edition BAES.

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