Alois Schöpf
Warum sollen wir einer Therapie vertrauen,
deren Nebenwirkungen uns
den Tod versprechen?
Versuch über Wissenschaftsskepsis

Mit zunehmendem Alter häufen sich die Medikamente. Fein geordnet oder irgendwann chaotisch übereinander geworfen stauen sie sich im Fach eines Wohn-, Vorraum- oder Schlafzimmerschranks: gebrauchte Zug- und Cortison-Salben, Antibiotika, Hustensäfte, Kopfwehtabletten, Verbandsmaterial, Sprays, um nur die harmlosesten Wundermittel zu erwähnen, denen wir aufgrund der heldenhaften Leistungen der Naturwissenschaften ein im Durchschnitt um viele Jahre längeres und vor allem qualitätsvolleres Leben verdanken.

All das ist so selbstverständlich geworden wie die Tatsache, dass die mit elektronischer Gesundheitskarte bewehrten Freundinnen und Freunde der monotheistischen Religionen in ein Krankenhaus fahren, um sich einer schwierigen Operation zu unterziehen, ohne dabei in Betracht zu ziehen, im Falle eines Erfolgs der Behandlung noch weitere Jahre auf ihr ersehntes Paradies warten zu müssen. Oder dass, noch abstrakter gedacht, all die Grundsätze, auf Basis derer etwa die Neurochirurgie die Menschen von den Folgen ihrer Schlaganfälle zu heilen versucht, ohne dabei je auf eine unsterbliche Seele zu stoßen, konträr dem widersprechen, worauf Gläubige ihr Weltbild aufbauen.

Aber auch wir aufgeklärten Gebraucher der Vernunft sind nicht viel besser. Unsere Verfehlungen wiegen geradezu schwerer, da wir uns nicht von mächtigen Kathedralen, feierlichen Messen und den grandiosen Zeremonien meist betagter Herren blenden lassen. Zu oft sind wir bei wachem Verstand unmündige Patienten, die, wie es Immanuel Kant in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung verurteilt, blind ihrem Arzt vertrauen und den Beipackzettel eines Medikamentes nicht einmal dann lesen, wenn sich aus heiterem Himmel Herzrasen, Schwindel, Müdigkeit oder der Verlust des sexuellen Begehrens einstellen. Anstatt selbstdenkend die möglichen Ursachen solcher Missliebigkeiten zu ergründen, werden dem Arzt so oft die Symptome geschildert, bis durch neue und geeignetere Medikamente die Probleme meist wundergleich aus der Welt geschafft sind und eines weiteren Bedenkens nicht bedürfen.

Denn auch der vollkommen ungetrübte und unabhängige Geist hat Tapferkeit zu beweisen, wenn er jenes auf dünnem Papier gedruckte, zuerst winzige und sich dann großflächig ausbreitende Schriftstück, das jedem Medikament beigelegt ist, zur Hand nimmt und es angestrengt zu entziffern versucht, um herauszufinden, um welchen Wirkstoff es sich handelt, mit welchen anderen Wirkstoffen er zwecks Verhinderung unerwünschter Wechselwirkungen nicht zusammen eingenommen werden sollte und welche Nebenwirkungen im Verhältnis 1:10, 1:100 oder 1:1000 unter Umständen möglich sind.

Die wahre Herausforderung besteht allerdings nicht so sehr im abstrakten Kalkül, der einzig Betroffene unter 10, 100 oder 1000 zu sein, sondern in der Aufzählung all der Möglichkeiten, sich durch die Einnahme des Präparats endgültig ins Unheil zu stürzen. Da ist von Atemnot, Anschwellen der Augenlider und der Lippen, Anschwellen der Zunge und der Kehle, Hautausschlag, Doppeltsehen, Muskelkrämpfen, Knöchelschwellungen, Ohrengeräuschen, Zittern, Nasenlaufen, Erbrechen, Haarausfall, Störungen beim Wasserlassen, Erektionsstörungen, Vergrößerung der Brust, Gelenk- oder Muskelschmerzen, Gewichtszunahme, Gastritis, Gelbfärbung der Haut, Schwindel, Nierenversagen, Leberentzündung, Nesselsucht, Blasenbildung, Entzündung der Bauchspeicheldrüse bis hin zu starken Bauch- und Rückenschmerzen, Depressionen, Herzinfarkt und Suizidgefahr die Rede.

Wer wundert sich da noch, wenn besonders empfindliche Damen entsetzt aufschreien, sollte ein Arzt ihnen Cortison oder Antibiotika verschreiben? Oder wen wundert es, wenn ein besorgter Vater in der Apotheke so lange nach einem nebenwirkungsfreien Hustenmittel für seinen kleinen Sohn fragt, bis ihm die Apothekerin ein homöopathisches präsentiert, das schon deshalb keine Nebenwirkungen haben kann, weil es keine Wirkungen hat?

Zuletzt: Wer wundert sich, dass die Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften trotz ihrer großartigen Verdienste längst geradezu bedenkliche Formen angenommen hat. Und dass gleichsam als Sündenbock die Pharmaindustrie, durch die uns die Heilmittel mittels industrieller Produktion kostengünstig zur Verfügung gestellt werden, gemeinhin als gierig und korrupt eingestuft wird. Aus Angst vor Klagen, Versicherungskosten und, insbesondere in den USA, gigantischen Entschädigungszahlungen konfrontiert sie uns mit einem gefährlichen Wissen, wie es in früheren Zeiten auch den Gläubigen erging, wenn ihnen von der Kanzel herab in aller Farbenpracht die Höllenqualen geschildert wurden, um sie zu einem heiligmäßigen Leben zu bewegen.

Und wahrhaftig, zu verdächtig gleichen heute die Listen der Nebenwirkungen, die uns mit Angst um das richtige Leben erfüllen, den Beichtspiegeln der Vergangenheit, in denen wir uns als Sünder wiedererkannten. Und allzu ähnlich ist das besondere Gericht im Jenseits, das den Gläubigen erwartet, dem Diagnosegespräch mit dem Arzt, der uns für ein diesseitiges Jahr weiterleben lässt, wenn die Parameter stimmen. Oder eben nicht. Und zu kurz ist stets die Gewissheit, nach absolvierter Beichte bis zur nächsten Sünde rein für den Himmel zu sein, wie auch die Freude über unsere Gesundheit nur bis zum nächsten Schmerz währt, der diagnostiziert werden muss.

So unmöglich es also in früheren Zeiten war, inmitten all der Versuchungen der Lüste ein gottergebenes Leben zu führen, so unmöglich ist es heute, den Förderern unserer Gesundheit, den exakten Naturwissenschaften, jenes Vertrauen entgegen zu bringen, das ihnen zustehen würde, weil es zugleich unmöglich ist, um all die Gefahren, die sie uns auflisten, zu wissen und furchtlos und fröhlich zu leben, ohne den Verstand zu verlieren.

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor, Journalist, Veranstalter, geb. 1950, lebt bei Innsbruck, schreibt seit 41 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 34 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Nach seiner Tätigkeit als ORF-Fernsehredakteur für Fernsehspiel und Unterhaltung verfasste Schöpf Romane, Erzählungen, Märchenbücher und in den letzten Jahren vor allem Essays zu relevanten gesellschaftlichen Themen. Daneben schrieb er Theaterstücke und vier Opernlibretti. Schöpf war auch als Blasmusikdirigent tätig und ist Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die er 25 Jahre lang bis 2019 leitete. Zuletzt gründete er 2020 das Online-Magazin schoepfblog, an dem 40 renommierte Autorinnen und Autoren mitarbeiten.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    ja, wir sind wahre heldInnen, wenn wir ein vom arzt, der ärztin verordnetes medikament nach genauer lesung des beipackzettels einnehmen. ist wirklich wie mit dem gottvertrauen früherer zeiten, oder doch der erfahrung, dass die angedrohten nebenwirkungen höchst selten eintreffen.

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