Alois Schöpf
Riccardo Muti und das Interesse
an der Vergangenheit
Apropos
Riccardo Muti, der mehrfach das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, aber in Salzburg keine Opern mehr dirigiert hat, weil er sich nicht mit RegisseurInnen herumärgern will, die von Musik nichts verstehen, hat anlässlich eines Interviews zu seinem 84. Geburtstag eine interessante Feststellung getätigt.
Er bezeichnete die Marotte, ein Libretto umzuschreiben, wenn es nicht mehr zu den politisch korrekten Anforderungen der Gegenwart passt, als „umgekehrten Rassismus” und forderte, man möge einschlägige Texte aus ihrem historischen Kontext heraus begreifen.
Diese Forderung aus der Opernwelt klingt auf den ersten Blick abgehoben, betrifft bei genauerem Hinsehen jedoch die elementare Krise, mit der sich die sogenannte Hochkultur konfrontiert sieht. Ihr gehen nämlich im Tumult der vor allem durch das Internet verursachten Dauerbespaßung unter den nachkommenden Generationen nicht nur die Opernbesucher, sondern auch die Leser, die Theaterbesucher, aber auch die Musikerinnen und Musiker der traditionellen Musikkapellen verloren, wenn etwa letztere nicht einmal mehr in der Lage oder bereit sind, eine altösterreichische Ouvertüre oder einen Walzer zu spielen.
In all den Fällen geht es um den „historischen Kontext“, auf den man sich einlassen muss, wenn man überhaupt verstehen will, was eigentlich gemeint ist.
Ohne lebendige Neugier und die Bereitschaft, viel Hirnschmalz in diese Neugier zu investieren, um in Erfahrung zu bringen, wie die Menschen, die vor uns gelebt haben und nicht mehr leben, gefühlt und gedacht haben, und wie sie dies künstlerisch zum Ausdruck brachten, ist jede Bruckner-Symphonie, jedes Stück von Moliere, jede Bach-Kantate, jede Mozart-Oper, jeder Dostojewski-Roman und jedes Bruegel-Gemälde ein Buch mit sieben Siegeln.
Aber eben auch ein Buch, das, wenn man die Kontexte begreifen lernt, das Leben enorm bereichern kann.
Erschienen in der Tiroler Tageszeitung am 02.08.2025
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