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Alois Schöpf
Leiden für Gott?
Oder: Wem gehört die ÖVP?
Essay

Was für ein Festtag! Die Feldmesse, für die der Altar unter Obstbäumen im Dorfzentrum aufgebaut wurde, ist beendet. Der Priester beschwor in seiner Predigt die gemeinschaftsbildenden Kräfte der Musikkapelle bzw. der Schützen bzw. der Feuerwehr. Nun ergreift der Landeshauptmann oder einer seiner Stellvertreter das Wort und versichert in flammender Rede, dass man als vertrachteltes Mannsbild und verdirndlte Frau doch eingestehen müsse, hier und heute in der besten aller Welten zu leben. Verhaltener Applaus, denn alle freuen sich, hinter der Musikkapelle einher eilend, die Bierbänke zu stürmen.

Mit dieser Art Zeltfest-Kultur ist die ÖVP, vor allem in den Bundesländern und dort in den ländlichen Gebieten, jahrzehntelang gut gefahren. Nicht so in der Stadt, wo sie kontinuierlich an Stimmen verlor und vor der Palastrevolution der Türkisen bei Nationalratswahlen etwa in Wien bei ca. 14 %, in Linz bei 22 %, in Innsbruck bei 27% und in Graz bei 25 % landete. Im urbanen Raum erwies sich also die Methode zunehmend als Auslaufmodell, weltanschauliche und ethische Fragen der Kirche zu überlassen und sich, wie der Patriarch Eduard Wallnöfer es einmal auf den Punkt gebracht hat, pragmatisch darum zu kümmern, dass die Menschen über eine Wohnung, eine gute Ausbildung, eine Verkehrsanbindung und einen Arbeitsplatz verfügen.

Der entscheidende Erfolg der „Neuen Volkspartei“ unter Sebastian Kurz lag zweifelsfrei darin, dass es gelang, durch ein jugendlich-liberales, bürgerliches Design auch jene Wählerschichten wieder zu erreichen oder neu zu gewinnen, die sich in ihrer Verzweiflung ob des ewig abgestandenen Weihwasser-Geruchs der alten ÖVP längst anderen Parteien zugewandt hatten. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass der kluge Taktiker Kurz im Wahlkampf, abgesehen von einem ziemlich peinlichen Auftritt beim evangelikalen Großevent „Awakening Europe“ in der Wiener Stadthalle vor 10.000 Teilnehmern, jede offensichtliche Verbindung zum christlichen Glauben vermied, sich auf Interviewfragen als zwar christlich bezeichnete, zugleich jedoch die Religion in den Bereich des Privaten verwies.

Diese vornehme Zurückhaltung stößt jedoch an Grenzen, wenn Leute, die sich bisher in philosophischer Enthaltsamkeit übten und sich Debatten über ethische Fragen ersparten, plötzlich eine eigene Meinung entwickeln sollten. Wenn es nämlich um die Autonomie der Person, ein selbstbestimmtes Lebensende und darum geht, wie mit dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs in Sachen Liberalisierung der Sterbehilfe umzugehen sei – eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte überhaupt – könnte ein neuerlicher Verweis auf die einschlägigen, in diesem Fall vollkommen mittelalterlichen Ansichten der katholischen Kirche genau jene Erfolge wieder zunichtemachen, die durch eine Öffnung der Partei in Richtung säkulares, liberales städtisches Bürgertum möglich wurden.

Zugleich birgt, wie in jeder Partei, derzeit gerade in der ÖVP, in der das Kurz-Team durchaus zur Freude der Wählerschaft die alten Garden mit Ausnahme des Musikus Wolfgang Sobotka ins Ausgedinge geschickt hat, eine eigene Meinung im Hinblick auf die weitere Politikkarriere gewisse Risiken in sich. Bei der ohnehin latent mangelnden Zivilcourage der meisten Politiker, deren Fähigkeit weniger darauf aufbaut, den Zeitgeist zu prägen als ihn kraft besonderer olfaktorischer Befähigung zu erschnuppern, hat dies zur Folge, dass es, abgesehen von deklarierten Hardcore-Katholiken, die sich als säkulare Ausgabe der theologischen Denkdependancen selbstbewusst Respekt verschaffen, kaum einen ÖVP Politiker gibt, der im privaten Gespräch einer Liberalisierung der Sterbehilfe nicht zustimmen würde, was ihn jedoch nicht daran hindert, sich in der Öffentlichkeit wie Papageno in der Zauberflöte ein Schloss vor den Mund hängen zu lassen.

Vor dem Hintergrund solch beschämender Feigheit bzw. Denkverweigerung bzw. Denkunfähigkeit, Eigenschaften, die sich keineswegs nur auf Politiker der ÖVP beschränken, nützen nämlich ehrgeizige Damen wie Waltraud Klasnic, Susanne Kummer oder Stephanie Merckens, die im Dienste der Kirche ihre durch zahllose Missbrauchsfälle auf Jahre hinaus diskreditierten männlichen Glaubensgenossen zu ersetzen versuchen, die Chance zum großen Auftritt. Unwidersprochen diskreditieren sie die Liberalisierung der Sterbehilfe aufgrund der theologischen Wahnidee, wonach der Mensch über eine unsterbliche Seele verfüge, deren wahrer Eigner Gott und lediglich deren Verwalter der Mensch sei. Daraus jedoch folge, dass niemand das Recht habe, sein von Gott gegebenes Leben selbst zu beenden. Und sie sparen auch nicht, wenn sie sich schon nicht theologisch äußern, was leicht zu einem mitleidigen Lächeln bei allfälligen Gesprächspartnern führen könnte, mit der Schilderung von Horrorszenarien, wonach eine Liberalisierung der Sterbehilfe die traditionelle österreichische Ahndlvergiftung endlich legal zur anerkannten volkskulturellen Praxis erheben würde. Eine unfassbare Beleidigung übrigens all jener Abertausenden, die sich unter Aufopferung ihres eigenen Lebens oft über Jahre hinweg um die Pflege alter und behinderter Menschen kümmern und gekümmert haben.

Was in der breiten Öffentlichkeit und vor allem in den Medien die drei genannten Damen besorgen, betreibt mit Erfolg innerhalb der ÖVP Dr. Gudrun Kugler, Theologin und Juristin, erfolgreiche Wahlkämpferin, die sich durch Vorzugsstimmen ihren Platz im Parlament erkämpfte, selbstverständlich guruhafte Gegnerin der Homosexuellen-Ehe, Abtreibungsgegnerin, Gegnerin der Pränatal-Diagnostik, Gattin des ehemaligen Pressesprechers von Opus Dei Österreich und damit wahrscheinlich selbst Mitglied dieser aus dem spanischen Faschismus erwachsenen katholischen Fundamentalistenbewegung, und nicht zuletzt auch Rednerin bei genau jenem eigenartigen evangelikalen Großevent, bei dem sich Sebastian Kurz von einem gewissen Prediger und Dunkelmann Ben Fitzgerald segnen ließ. Zwei besondere Pikanterien: Frau Kugler organisierte am Abend des 8. Dezember, des Festtages der unbefleckten Empfängnis Marias, auch eine massiv kritisierte, weil  die Trennung von Kirche und Staat missachtende Gebetsfeier im Parlament. Und sie ist stellvertretende Vorsitzende des parlamentarischen Menschenrechtsausschusses, obgleich sie als katholische Fundamentalistin zugleich einer Organisation angehört, die unzweifelhaft in vielen Bereichen, siehe oben, krass menschenrechtswidrig agiert.

Wenn man davon ausgeht, dass nach jüngsten Statistiken nur noch 10-15 % all jener, die in Österreich durch die Kindstaufe frühzeitig für die katholische Kirche akquiriert wurden, noch regelmäßig in die Kirche gehen und die kirchlichen Dogmen bejahen, ist es einerseits als durchaus selbstverständlich zu betrachten, wenn Personen wie Kugler auch diese Minderheit im Parlament vertreten. Andererseits jedoch ist es höchst bedenklich, wenn radikale Vertreter von Weltanschauungen den Rest ihrer Parteikolleginnen und -kollegen nur deshalb dominieren können, weil selbige sich aus Feigheit vor einem fiktiven katholischen Wähler, den es so nicht mehr gibt, und aus Faulheit, sich selbst über die Zeitläufte Gedanken zu machen, das weltanschauliche Denken von Leuten abnehmen lassen, die durch ihre totalitäre Ideologie den Eindruck vermitteln, genau zu wissen, wie die Dinge liegen, auch wenn sie dabei tagtäglich nicht nur an Mindeststandards der Menschlichkeit, sondern auch am Willen der Bevölkerung, die etwa die Möglichkeit zur Sterbehilfe mit großer Mehrheit befürwortet, vorbeischrammen.

Es sind also gleich mehrere Gründe, die einen dringenden Appell an die ÖVP, aber auch an alle anderen Parteien rechtfertigen, sich aus der ideologischen Umklammerung des Christentums und seiner mit dem modernen Kenntnisstand der Wissenschaften nicht mehr vereinbaren Ideologie zu befreien. Es ist nicht nur die Tatsache, wie bereits angedeutet, dass die katholische Kirche längst in  ethischen Fragen durch das Verhalten ihres Bodenpersonals, aber auch durch ihre Verbundenheit mit weltfremden und lebensfeindlichen Moralvorstellungen ihre Autorität verspielt hat und nur noch von einer Minderheit in der Bevölkerung ernst genommen wird. Es ist auch eine Frage taktischer Überlegungen, wie lange das zweifelsfrei hervorragende Marketing der Kurz-Regierung ausreichen wird, um das liberale städtische Bürgertum bei der Stange zu halten bzw. zu blenden, sofern hinter der jugendlich flotten Fassade wiederum nur die fragwürdigen Gestalten von Kardinälen und Bischöfen durch die Wandelgänge stiller Interventionen huschen.

Zuletzt ist eine klare Distanzierung auch vor dem Hintergrund der bedenklichen Entwicklungen in den USA oder in Brasilien von entscheidender Bedeutung für den inneren Frieden unseres Landes. In den USA zum Beispiel hat die von Trump aus blankem Zynismus eingegangene Koalition zwischen religiösen Fundamentalisten und Politik zu einer extremen und fast nicht mehr überbrückbaren Spaltung der Gesellschaft geführt, die im Sturm auf das Kapitol gipfelte. In Brasilien wiederum ignoriert der Querdenker Bolsonaro noch immer die Pandemie und führt damit nicht nur sein eigenes Land in die Katastrophe, sondern gefährdet durch brasilianische Mutationen die Gesundheit der Weltbevölkerung. Auch hier ist ein Politiker den teuflischen Pakt mit den Freikirchen eingegangen, um auf diese Art Zugang zum ärmeren Teil der Bevölkerung zu gewinnen. Der Preis dafür ist die ideologische Dominanz in einer Koalition aus katholischer und evangelikaler Weltferne plus Neoliberalismus auf Kosten der Umwelt und der indigenen Bevölkerung.

Soll auch Österreich, ein Land, das durch seine Kultur des Ausgleichs, des sozialen Friedens und der an eine schöne Landschaft angepassten Mäßigung einen solchen zuerst geheimen und dann immer offener geführten Bürgerkrieg riskieren? Nur weil denkfaule politische Eliten nicht bereit sind auf den Erkenntnisstand der Gegenwart und die entsprechenden ethischen Diskussionen aufzuschließen? Weil sie aus Feigheit und Faulheit trotz ihrer hohen Gehälter lieber die Anstrengung der Philosophie wie seit Jahrhunderten der von immer mehr Menschen abgelehnten und verlachten Lüge der Theologie überlassen?

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Dieser Beitrag hat 8 Kommentare

  1. Astner Josef

    Die meisten in tirol sind ja nur pseudochristen! Ich wollte schon lange zur evangelischen kirche wechseln ! Fast alle sagen, lasst sie doch heiraten! Aber solange die leute sich nicht getrauen, die kirche unter druck zu setzen, wird sich nichts ändern! Aber Sie kennen ja meine meinung über wörgl, land tirol und österreich. PS: Wie wär’s einmal mit dem thema Alaba! Wird in tirol heute groß gezeigt bei der musterung in Innsbruck. Weil er ja seinen hauptwohnsitz (?) in Kirchberg hat. Wann rückt er ein? Oder wird er dann zum auswanderer wie mein schulkollege Berger! Grüße an alle, die das lesen, und trotz allem einen schönen tag.

  2. walter plasil

    Lieber Alois, du bringst mit ungewöhnlichen und erfrischend deutlichen Worten das Thema auf den Punkt. Humanismus mit bigotter Religion geht eben nicht zusammen.
    Walter Plasil, Giordano Bruno Stiftung Innsbruck

  3. Manfred Heisler

    Wirklich großartig analysiert, das Thema und die Situation genau auf den Punkt gebracht.
    Ganz abgesehen vom Thema „Glauben“, welches allein schon polarisiert und viele verwirrt zurücklässt, ist Politik an einem sehr differenzierten Punkt angelangt. Verwirrung auch durch irrwitzige Selbstdarstellung, bis hin zu egoistischen und arroganten Auftritten, ja sogar korrupten, kriminellen Handlungen, lassen auch den „Glauben“ an eine nachhaltige, demokratische Entwicklung verlieren. In diesem Zusammenhang erscheint allein durch teils mangelhafte oder gar nicht vorhandene Intelligenz und Expertise, bei so ziemlich allen politischen Parteien das Thema Sterbehilfe wohl wegen Überforderung unlösbar. Allein die Vorfälle der letzten Zeit innerhalb der federführenden Ressorts, Innen- und Justizministerium, haben ja chaotische Beispiele geliefert.
    Ich habe mir vor einiger Zeit im ARD und dann auch im ORF den Film „GOTT“ von Ferdinand von Schirach angesehen und war sowohl thematisch als auch von den Darstellungen tief beeindruckt.
    Also für mich unvorstellbar, dass hier eine österreichische Lösung oder Regelung möglich sein kann.

  4. Reinhard Nicolaus

    Ich wiederhole: Eine so mächtige Stimme der Vernunft wünsche ich mir auch für Deutschland.

  5. Joachim Nägele

    Aus einem Interview mit Waltraud Klasnic und Rudolf Likar (Präsident der Palliativgesellschaft).
    Klasnic: „dort könnte auch aus Liebeskummer ein assistierter Suizid bestellt werden. Das kann doch nicht sein …“)
    In meiner Umgebung haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten vorwiegend junge Leute aus Liebeskummer auf folgende Arten das Leben genommen: Herabstürzen von Felsen und Brücken, sich vor den Zug werfen, Pulsadern aufschneiden, Überdosen an Tabletten und anderem, Erhängen usw.
    Hätten diese Leute die Option eines assistierten Suizides gehabt, hätte vielleicht der/ die eine oder andere nach einer vorher erfolgten Beratung davon abgebracht werden können. Und wenn nicht, wären Rettungskräfte vor solchen Anblicken wie zerstückelte Körper zwischen Zugschienen, zerplatzte unter Abgründen etc. wenigstens verschont geblieben…

  6. Klaus Sprenger

    sehr guter, super kommentar – es wird gerade bei der sterbehilfe und der „ reparatur“ des verfassungsgesetzes, gut aufzupassen sein, dass der fortschritt des urteils vom vergangenen dezember nicht wieder zu etwas undurchführbarem uminterpretiert wird. ich befürchte, es wird geschehen.
    danke ihnen für die sehr engagierten kommentare gerade zu dieser debatte, aber ich habe nur exemplarisch das aus ihrem fundus an blog-inhalten, die ich nicht alle teile, aber viele, herausgenommen, weil es mir besonders am herzen liegt.
    klaus sprenger

  7. „Vor lauter Feigheit kein Erbarmen“ ist der Titel eines Films über die grausame „Mühlviertler Hasengagd“. „Vor lauter Feigheit kein Erbarmen“ passt auch zum genannten Thema. Die Basis, um schnell dieses lebenswichtige Problem positiv zu lösen, wäre Empathie zu dem Betroffenen. Nur diese scheinen die Zuständigen in der Politik – wenn überhaupt vorhanden – der Feigheit zu opfern.

  8. Gerhard Engelmayer

    Dem Opus auf den Kopf getroffen! Gratuliere dir zu dem Artikel! Feigheit und Faulheit! Zwei Ingredienzien, die in Kooperation mit der widerlichen (siehe Th. Bernhard) österreichischen Charakterlosigkeit eine feine Mischung ergeben. Wer dann noch behauptet, Katholizismus
    ist doch so weichgespült, von denen geht doch keine Gefahr mehr aus, der ist nicht im Bilde.

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