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Alois Schöpf
Eucharistiefeier für kritische Bürger
Zu Elfriede Jelineks Stück Schnee Weiß
am Tiroler Landestheater
Essay

Autoren pflegen, um zu signalisieren, dass sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, über den Kapitalismus herzuziehen. Wenn es um ihre eigenen Werke geht, werden sie allerdings rasch Anhänger des angeblich brutalen Wirtschaftssystems und schreiben genau das, was am Strich der Dichterwelt gefragt ist.

Wie am realen Strich geht es dort vor allem darum, ob man, metaphorisch gesprochen, zu den Dünnen oder Dicken, den Blonden oder Dunkelhaarigen gehört, im übertragenen Sinn also um das attraktive Thema und die adäquate formale Umsetzung desselben. Und es geht um den richtigen Standplatz, sprich Verlag, Fernsehanstalt, Theater, an dem die meisten Kulturfreier vorbeischauen, um ein Buch zu kaufen, einen Film anzuschauen oder die Eintrittskarte für ein Stück zu bezahlen.

Vor dem Hintergrund dieser markttechnischen Rahmenbedingungen hat sich Elfriede Jelinek, vergleichbar mit Peter Handke, von allem Anfang an instinktsicher positioniert, was ihr zuletzt ebenso wie Handke den Nobelpreis für Literatur eingebracht hat. Ob sie sich nun als noch junge Schönheit für den Rowohlt Verlag auf ein Kanapee hinlegte, um den schreibenden Vamp zu spielen, oder ob sie im Alter von den Höhen einsamer Verbitterung herab über die Welt herzieht: Ihre Mischung aus hasserfülltem Feminismus und Logorrhö ist thematisch unschlagbar und arbeitstechnisch maximal effizient.

Diese allgemeine Beobachtung kann derzeit anhand einer Aufführung des Stückes Schnee Weiß in den Kammerspielen des Tiroler Landestheaters überprüft werden, wobei sich als thematischer Einstieg der Werbetext des Rowohlt Theater Verlages empfiehlt.

Besetzung
variabel

Weiß ist die Farbe der Unschuld, und Schnee verdeckt alle Spuren – nicht so jedoch bei Elfriede Jelinek. In Schnee Weiß, einer Fortschreibung ihres legendären „Ein Sportstück“, leuchtet sie unerbittlich das Verborgene aus. Anlass hierfür waren die Enthüllungen der Rennläuferin Nicola Werdenigg über sexuellen Missbrauch im österreichischen Skisport, die besonders in den Verbänden bald wieder auf eisiges Schweigen stießen. Denn Sport ist unsere moderne Religion, deren Götter allmächtig und deren Anhänger zahlreich sind…Antike wie christliche Frauenbilder werden neu befragt und Jahrhunderte des Machmissbrauchs durchquert, in denen die Opfer- und Täterrollen meistens klar verteilt sind, schon allein da Frauen der Status als Subjekt rigoros verweigert wird: «Die Frau wird als Mann zweitrangig gesehen, weil sie keiner ist.«

Bereits die ersten beiden Worte kennzeichnen einen der großen Vorzüge, die Jelinek den Theatermachern mit ihren Textflächen zu bieten hat. Intendanten, Regisseure und Dramaturgen können mit offizieller Duldung der Autorin tun, was sie wollen, besetzen, wie sie wollen, und werden nicht von lästigen und vielleicht gar der Realität verpflichteten Autoren dazu genötigt, sich mit einer Handlung oder gar mit der Psychologie oder der Entwicklung von Figuren auseinanderzusetzen und diese Erkenntnisse unwilligen Schauspielern aufzuoktroyieren.

Nein, es ist alles variabel, was bedeutet, dass alle Ideen, die wert- bzw. stückfrei seit Jahrzehnten im Hinterkopf so eines Regisseurs schlummern, endlich verwirklicht werden können. Und es bedeutet, dass Schauspieler schreien, kotzen, flüstern, sich zu Boden werfen und sich in Qualen winden, eben all das tun können, was sie auf der Schauspielschule gelernt haben und nun einem bewunderungsbereiten Publikum vorführen dürfen.

Damit ist auch schon gesagt, was der Abend in Innsbruck zu bieten hatte: exzessiv outrierende Schauspieler und ein paar beliebige Ideen einer ebenso beliebigen Regie, allen voran eine gigantische Frauenbrust, auf der fleißig herumgeturnt wurde und die, wenn der sein Kreuz schleppende Jesus Christus darüber klettert, wohl zu Marketingzwecken als kleines Skandalangebot eingeplant gewesen wäre, woraus leider nichts wurde, denn sogar die Tiroler sind inzwischen religiös indifferent.

Um der aus Wien stammenden Nobelpreisträgerin arbeitstechnisch auf die Schliche zu kommen, genügt es, sich in einem Gründerzeitmietshaus der österreichischen Bundeshauptstadt eine Bassena vorzustellen, neben der ein ununterbrochen vor sich hin keifendes sogenanntes Bassena-Weib nicht nur über die verschiedenen Parteien des Hauses, deren Kinder, den Postler und die Hausverwaltung herzieht, sondern auch, in Höchstform, über den Staat Österreich, seine korrupten Politiker und den Weltenlauf überhaupt.

Bei Jelinek ist dieses Geschwätz naturgemäß literarisiert und formal hochgeschraubt. Die Objekte ihres Hasses sind nicht auf die Kleinkariertheit eines Stadtviertels beschränkt, sondern behandeln, weit ausgreifend, neben dem stets wiederkehrenden Thema der entsetzlichen Unterdrückung und Zweitrangigkeit der Frau zeitgeistkompatibel die Ausbeutung der Natur, die Geilheit der Männer, die Verlogenheit der Kirche, die Vergottung des Schifahrens, den bösen Kapitalismus, den bösen Tourismus und immer wieder die armen Frauen, die armen Frauen, Metoo und die Scheißmänner.

Der erste Monolog des Stückes dauert ganze 35 Minuten, danach geht es, auf verschiedene Rollen verteilt, variabel eben, in der gleichen Tonart weiter, keinerlei Person, keinerlei Charakter, keinerlei Handlung, keinerlei psychologische Entwicklung, keinerlei Dialog, nur aneinandergeschnittene Monologfetzen, also kein Theaterstück im üblichen Sinn, sondern Wortdurchfall, Logorrhö, oder, bitteschön: Alt-Avantgarde!

Wie schon eingangs erwähnt: Bei den meisten Autoren ist, wenn es ums Geldverdienen und Ruhm geht, kein ethisches Verhalten vorauszusetzen. Dies gilt naturgemäß auch für Jelinek, die wahrscheinlich bei gut eingespieltem Zehnfingersystem bzw. der Fähigkeit, mit einem Diktiergerät umzugehen, ihre Stücke binnen weniger Tage herunterschreibt. Ebenso klinkt bei Theatern jegliches Qualitätsbewusstsein aus und wird von der Untugend der Publikumsanbiederung, um nicht zu sagen Quotenhurerei abgelöst: auch die Premiere in Innsbruck wurde heftig beklatscht, das Publikum erhob sich zu Standing Ovations und in den Medien setzte es von Seiten jener, die als Kritiker parasitär vom verlogenen Literaturmarkt leben, hymnische Kritiken. Noch Fragen?

Ja, noch eine Frage! Weshalb fällt ein nach äußerem Anschein bürgerliches Publikum, das zum überwiegenden Teil aus Damen und Herren besteht, die sichtlich einem oftmals zweifelsfrei herausfordernden Berufe mit Erfolg nachgehen, was ohne eine gewisse Intelligenz nicht abgeht, auf das Geschwätz einer Elfriede Jelinek herein? Sind der Nobelpreis und die bekanntermaßen intrigante Literatur-Nobelpreisjury(1) wirklich so über alle Zweifel erhaben, dass sämtliche kritische Einwendungen wie etwa lähmende Langeweile oder Nichtverstehen eines evidenten Sinnzusammenhangs erfolgreich ausgeblendet werden können?

Wahrscheinlich ist eine solche dem rationalen Denken verpflichtete Frage viel zu naiv. Theaterabende mit Stücken wie Schnee Weiß können als Mahnmale zeitgeistiger Antiaufklärung wohl nur noch aus religionsanthropologischer Sicht verstanden werden.

Als Mitglied eines Musikvereins verschlägt es mich, obgleich bis in die Knochen ungläubig, etwa zweimal im Jahr in eine katholische Messe, bei der ich aufgrund der Tatsache, dass ich solche Rituale nicht mehr gewohnt bin, alles, was gesagt wird, genau in mich aufnehme und seinen Inhalt zu verstehen versuche. Dabei bin ich immer wieder verblüfft, welch unglaublichen Unsinn sich das Kirchenpublikum anzuhören bereit ist. Dies betrifft sowohl die von logischen Bockssprüngen gekennzeichneten Predigten der Geistlichen, als auch das ununterbrochene Schuld- und Sühne-Gelabere der Texte, die sie aus ihren großen Büchern vorlesen. 

Der Vergleich zu Schnee Weiß und seiner Aufnahme durch das Publikum drängt sich geradezu auf.

Gläubige gehen offenbar nicht in die Kirche, um dort das, was gesagt wird, im Sinne rationalen Denkens zu verstehen, sondern deshalb, weil sie sich aus dem, was gesagt wird, lediglich Partikel (von Gott liebt dich, du wirst erlöst werden, deine Seele ist unsterblich, Gott passt auf dich auf, nach dem Tod geht es erst so richtig los bis hin zu Jesus hat alle deine Schuld auf sich genommen) mit nach Hause nehmen, um von der Religion getröstet wieder ihren Alltag aufnehmen zu können.

Geht nicht auch der dem Zeitgeist verpflichtete, hedonistische, narzisstische Zeitgenosse in gleicher Weise in ein Stück der Paradefeministin, Kommunistin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, um aus unverständlichem, pseudokritischem Geschwätz in Wortfragmenten Lebenströstungen in Form von Antikapitalismus, Feminismus, Männerhass, Sexualhass, Neopuritanismus und Antitourismus mit nach Hause zu nehmen und sich dort, geadelt durch das Testimonial wacker ertragener Langeweile, auf der richtigen Seite der Geschichte, auf der Seite der Wahrheit wiederzufinden, woraus sich Wohlbefinden und die Rentabilität der Theaterkarte ableiten lässt?


(1) Matilda Voss Gustavsson: Klubben. ‎ Albert Bonniers förlag. 2020. Schwedische Ausgabe



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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

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