Alois Schöpf
Die sexuellen Fehltritte
des Herrn Gmeiner und
die Empörung der Nachgeborenen
Notizen

Manche Artikel muss man mit dem Satz beginnen: Um nicht missverstanden zu werden. Auf den konkreten Fall bezogen bedeutet dies: Die sexuellen Verfehlungen, die dem SOS Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner zur Last gelegt werden, sollen an dieser Stelle weder beschönigt noch kleingeredet werden.

Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob es gerecht ist, die Leistungen Gmeiners, dessen sexuelle Gefährdungen schon seit Jahrzehnten Gegenstand von Gerüchten waren, ohne dass bis heute Genaueres über ihren Schweregrad bekannt geworden wäre, durch hysterische Empörung geradezu auszulöschen?

Ausdruck dieser moralistischen Haltung ist nicht nur die sofortige und opportunistische, um nicht zu sagen, sich dem Zeitgeist anbiedernde Umbenennung von nach Gmeiner benannten Straßen und Plätzen. Unweigerlich wird dem auch die Aberkennung jener über hundert Auszeichnungen und Ehrentitel folgen, die zu erhalten dem Wohl- bzw. Missetäter offenbar ein großes Anliegen war, was auf eine massive narzisstische Störung schließen lässt.

Ich habe einen Familienrichter mit langjähriger Berufserfahrung gefragt, wie er den Fall einschätzt und bekam zur Antwort, dass vor Gericht weder die weltweite Prominenz des wegen sexueller Übergriffe Beschuldigten einen Einfluss haben dürfe, aber auch umgekehrt sein Fehlverhalten, sofern aufgeklärt und korrekt abgeurteilt, nichts unmittelbar mit seiner sonstigen Lebensleistung zu tun habe.

Freunde, mit denen ich über den Fall diskutierte, erwähnten Michelangelo, der schwul war und seine schönen Modelle – sagen wir: bestimmt nie angerührt hat, auf dass wir ihn weiter als großen Künstler verehren dürfen. Erwähnt wurde auch der berühmte Architekt Adolf Loos, der ein Päderast war, oder Peter Altenberg, der nur kleine Mäderln mochte, oder Stefan Zweig, der als Exhibitionist nackt durch den Wiener Stadtpark flitzte, oder gleich Josefine Mutzenbacher und ihr Autor Felix Salten, ein pornographisches Erfolgs-Gespann, dessen mit Wollust geschilderten Delikte heutzutage ein Gericht über Monate beschäftigen würden. Die Seele sei eben ein weites Land, lässt Salten-Freund Arthur Schnitzler einen Tiroler Hoteldirektor sagen.



Die von meinem Richterfreund geforderte Trennung zwischen persönlicher Verfehlung und objektiver Leistung ist deshalb von Bedeutung, da die Anschuldigungen, die gegen Hermann Gmeiner und nicht wenige seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorgebracht werden, vergessen lassen, dass weltweit Tausende um ihre Kinder bemühte Kinderdorf-Mütter und Mitarbeiter plötzlich zu Unrecht ihres guten Rufes beraubt werden und eine von Spenden lebende Einrichtung dadurch in eine existentielle Krise schlittert.

Dass SOS Kinderdorf International, um das Spendenaufkommen doch noch zu retten, ihren Österreich-Ableger vorsichtshalber suspendierte, ist eine verständliche, aber dennoch miese Solidaritätsverweigerung, die suggeriert, dass SOS-Kinderdorf Österreich als Ganzes unter den Verdacht von Übergriffigkeit und Vertuschung gestellt werden muss.

Erstaunlich ist auch in diesem Fall, wenn die Empörung keine Grenzen kennt, dass niemand die Frage stellt, welche kollektive Neurose einer Erregung zugrunde liegt, die in anderen Fällen maximal zu einem toleranten Mitleid gedeiht.

So wurde Tirol über Jahrzehnte von Alkoholikern regiert und niemand fühlt sich bis heute daran gehindert, die großen Leistungen unserer Nachkriegspolitiker anzuerkennen, nur weil diese bei Unmengen von Südtiroler Röteln ausverhandelt wurden. Das Denkmal für Eduard Wallnöfer, das unser Nationalbildhauer Rudi Wach angefertigt hat, wurde nicht wegen Drogenmissbrauchs vom Landhausplatz ins Volkskunstmuseum verbannt, sondern wegen der bis heute nicht bereinigten illegalen Vermögensübertragung von Gemeindegütern an die zum Zwecke dieses Raubs gegründeten Agrargemeinschaften.

Aber selbst dieser Skandal ist nicht geeignet, den Ruf der Verantwortlichen annähernd so zu schmälern, wie es Gmeiner widerfährt. Wie ja auch gar mancher Ehemann und Familienvater durch seinen Alkoholmissbrauch, der mitleidig als Krankheit beschönigt wird, seine Partnerin und Kinder auf Lebzeiten physisch und psychisch schädigen kann, ohne dass er deshalb scheel angeschaut würde, auch wenn es alle wissen, aber nicht wissen wollen, indem sie es unter dem Motto Das ist Privatsache! ignorieren.

Erstaunlich ist auch, dass Gewalt an Jugendlichen zwar immer wieder in Zusammenhang mit sexuell konnotierten Übergriffen Erwähnung findet, aber kaum jemals selbst zum Fall wird. So sehr ich meine eigenen jesuitischen Lehrer auch heute noch hochachte und ihnen sehr viel verdanke, dass mir einer von ihnen den Schlüsselbund an den Kopf knallte, sodass das Blut waagrecht aus der Nase schoss, bleibt mir ebenso in Erinnerung wie die Tatsache, dass ich von 120 Abenden 80 mit ausgestreckten Armen im Treppenhaus hinknien musste, weil ich vor dem Zubettgehen den Mund nicht halten konnte.

Vielleicht sollte man sich zur Abwechslung wieder einmal daran erinnern, dass wir im Land eines Sigmund Freud leben, der bekanntlich den Sexual- und später dann auch den Todestrieb zu den elementaren Kräften unseres Seelenlebens zählte. Für die Sexualität ist eben alles nur eine günstige oder ungünstige Rahmenbedingung, ob es nun materielle Not ist oder die Gefängniswände der Moral. Dass das Überwinden solcher Wände auf Kosten von Kindern und Jugendlichen, die dadurch lebenslänglich geschädigt werden können, ein besonderes Vergehen ist, steht dabei ebenso außer Zweifel wie es gerade aufgrund dieser Bedeutung die Fragen erzwingt, die bislang im Fall Gmeiner noch alle unbeantwortet blieben.

Was hat der Mann tatsächlich angestellt? Und wen hat er damit, um die Fragestellung des Psychiaters Reinhard Haller zu übernehmen, in welchem Ausmaß geschädigt? Waren die hohen Abfindungen das Hurengeld für vollzogenen und erzwungenen Geschlechtsverkehr oder nur großzügiges Schweigegeld zum Schutze des Spendenflusses bei eher kleinen, jedoch marketingmäßig dennoch gefährlichen Verfehlungen?

Erst wenn all dies geklärt ist, ist auch ein Urteil möglich, das sich, auch wenn der Beschuldigte bereits tot ist, an den Fairnessregeln der Gerichte zu orientieren hat. Bis dahin kann die allgemeine Empörung sich nur auf schwache Argumente berufen und beweist lediglich eine nach der sogenannten 1968-er Revolution deprimierend reaktionäre Verständnislosigkeit gegenüber der Macht der Sexualität, die heute bald nur noch zur narzisstischen Selbsterhöhung missbraucht wird und als Kunst, gemeinschaftlich das Leben zu bereichern, abgedankt hat.

Zuletzt spielen hier auch die Medien, die bekanntlich mit dem Rücken zur Wand stehen, eine große Rolle. Die Darstellung der Freuden der Lust hat ihnen die Pornographie abgenommen. Die Bildung von Communities übernahmen die Sozialen Medien, Sachinformationen Google und ChatGPT, politische Informationen die Blauen Seiten des mit Zwangsgebühren finanzierten ORF und fundierte Gesellschaftskritik Blogs wie der vorliegende. 

So bleibt ihnen nur noch zur Aufrechterhaltung des immer schlechteren Geschäfts die wöchentliche Empörung des unter Lebensdefiziten leidenden Spießers. Dafür werden sogar Menschenopfer in Kauf genommen. Die letzte Woche war es eben Hermann Gmeiner, der, wenn dies möglich wäre, von Glück sprechen könnte, dass er schon tot ist. Und bei dem sich erst erweisen wird, ob aufgrund seines ruinierten Rufs eher Mitleid als aufgrund tatsächlich krimineller Energie Verachtung am Platz ist.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor, Journalist, Veranstalter, geb. 1950, lebt bei Innsbruck, schreibt seit 41 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 34 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Nach seiner Tätigkeit als ORF-Fernsehredakteur für Fernsehspiel und Unterhaltung verfasste Schöpf Romane, Erzählungen, Märchenbücher und in den letzten Jahren vor allem Essays zu relevanten gesellschaftlichen Themen. Daneben schrieb er Theaterstücke und vier Opernlibretti. Schöpf war auch als Blasmusikdirigent tätig und ist Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die er 25 Jahre lang bis 2019 leitete. Zuletzt gründete er 2020 das Online-Magazin schoepfblog, an dem 40 renommierte Autorinnen und Autoren mitarbeiten.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Irmgard Walter

    Das, was sie schreiben, finde ich genau richtig. Ich finde auch in meinem Bekanntenkreis viele, die ein großes Ansehen in der Gemeinde besitzen, aber Sachen machen, die sehr verwerflich sind. Aber bei uns Zuhause hat’s immer geheißen: wenn die Hand keine Finger hat, kann sie keine Fäuste machen. Mit freundlichen Grüßen.

Schreibe einen Kommentar