Alois Schöpf
Die missbrauchte Liebe
Blasmusik zwischen Propaganda und Kunst
Essay
Teil 1 bis 3

Ich bin ein Gasthauskind und daher von frühester Jugend an mit Blasmusik aufgewachsen. Die Maskenbälle, die meine Mutter im Gasthof Wilder Mann in Lans veranstaltete, fanden vor meinem Kinderzimmer statt, in das man mich an solchen Abenden, mit einem Nachttopf versehen, einsperrte. Durch das Schlüsselloch sah ich zur Tribüne hin, die man über den Treppenaufgang in den ersten Stock gebaut hatte und auf der, späteren Erzählungen zufolge, sogar die Fidelen Inntaler des legendären Gottlieb Weißbacher aufspielten, die wohl letzte noch untadelige Tanzmusikformation, bevor die Kloake der elektronisch verstärkten volkstümlichen Musik über das Land hereinbrach und bei Zeltfesten, die zu Umsatzmaschinen degradiert wurden, durch ihre Lautstärke jegliches Gespräch unmöglich machte.

Etwas ganz Besonderes waren in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit auch die Abende, an denen wir Kinder länger aufbleiben und uns im Freien aufhalten durften, während die Dorfmusik gegenüber dem Eingang zum Gasthaus aufspielte und die Gäste aus der Stadt, an der Hauswand stehend oder sitzend, mit einem Glas Wein in der Hand, dem Platzkonzert lauschten und wir Kleinen in der Nachbarschaft Obst stahlen oder nicht genug darüber staunen konnten, wie weit sich die Ohren des Tuba-Spielers, des Hatzl-Bauern, bei jedem Ton auf und ab bewegten.


Am Dorf

Es versteht sich, dass ich sobald als möglich, wenn ich vom Jesuitengymnasium in Feldkirch nach Hause kam, meinen besten Freund Heinz, der Trompete spielte, zur Probe begleitete. Dort sorgte ich beim ersten Mal so lange für Misstöne, bis mir der erste Klarinettist das Instrument aus der Hand nahm, selbst hineinblies und feststellte, dass ich auf einer C-Klarinette spielte, die einen Ganzton höher liegt als die bei der Blasmusik üblichen B-Klarinetten.

Damals war übrigens noch an jedem Notenpult ein Aschenbecher angeschraubt, was einige Musiker dazu nutzten, um in den Pausen eines Stücks rasch einen Zug aus der Zigarette zu nehmen, sodass der Rauch, wenn sie wieder einsetzten, oben beim Schalltrichter, vor allem bei den Tenorhörnern, als kugelige Wolke zur Decke stieg.

Ich habe mir nie die Mühe gemacht, die Jahre, die ich als Klarinettist oder Dirigent Mitglied bei einer Musikkapelle war, zusammenzuzählen. Es sind inzwischen sicherlich über fünfzig. Ebenso alt ist auch meine innige Liebe zur klassischen Musik, die ich wie viele andere meiner Generation über das samstägliche Wunschkonzert des Regionalfunks, auch Erbschleicher-Sendung genannt, kennenlernte.


Die Erbschleicher-Sendung

Da wurde zu Geburtstagen, silbernen und goldenen Hochzeiten öffentlich gratuliert, aber auch nach Krankheiten wurden Genesungswünsche ausgesprochen, und dies alles, jeweils dem Geschmack der Adressaten angepasst, von den schönsten Melodien der klassischen Musik begleitet: dem Gefangenenchor aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi zum Beispiel oder der halsbrecherischen Tenorarie aus der Oper Der Postillon von Lonjumeau von Adolphe Adam, der Kleinen Nachtmusik von Wolfgang Amadeus Mozart oder dem Blumenwalzer aus dem Ballett Der Nussknacker von Pjotr Iljitsch Tschaikowski.

Zu dieser beginnenden Liebe gesellte sich auch eine Neugier, die sich aus der eigenartigen Marotte einiger meiner Familienmitglieder ergab, bei den ersten Tönen des täglichen Klassikkonzerts, das vom Regionalfunk nach 16.00 Uhr ausgestrahlt wurde, wie von der Tarantel gestochen vom Sofa aufzuspringen und, jede Widerrede ausschließend, zu befehlen: Schalte sofort dieses Gefiedel aus!

Durch mein Bemühen, der Ursache dieses rabiaten Hasses auf den Grund zu gehen, eröffnete sich eine Welt der Schönheit, die sich mir, sofern ich auf die sogenannten Musikflächen unserer derzeit um das jeweils niedrigste Niveau kämpfenden Radiosender angewiesen wäre, niemals erschlossen hätte. Die mit guten Gehältern, beruflicher Sicherheit und meist sogar einem Studium ausgestatteten Bediensteten unseres staatlichen Rundfunks haben es inzwischen unter dem Vorwand, der Masse des gebührenzahlenden Publikums dienen zu müssen, vollkommen vergessen, dem edlen, im Rundfunkgesetz leider viel zu schwammig formulierten Auftrag verbunden zu sein, die Menschen zur Kunstmusik hinzuführen. Sie haben diese gesetzliche Verpflichtung, um das Landvolk nicht weiter mit Kunst behelligen zu müssen, in den Hochkultursender Ö1 abgeschoben, dessen bildungsbürgerlich arroganter, politisch korrekter und penetrant distinktionsgeiler Impetus das sogenannte gemeine Volk berechtigterweise als unerträglich, weil als demütigend empfindet.


Herrschaftsmusik

Dies dürfte auch schon damals der Grund dafür gewesen sein, dass viele meiner Verwandten und Bekannten in einer Art archaisch-ruralen Denkens die klassische Musik als nicht zu ihnen gehörig, als Herrschaftsmusik, als die Musik einer die bäuerliche Welt seit Jahrhunderten verachtenden und ausbeutenden Elite, als höfisch korrupte Dekadenz ablehnten. Dass dieses intrinsische Vorurteil auch in demokratischen Zeiten nicht beseitigt, sondern geradezu opportunistisch bestärkt wurde, erweist sich als die tägliche kulturelle Niedertracht der Medien, die sicherlich Mitursache dafür ist, dass deren Mitarbeiter sich mit der Politik die untersten Ränge im Ansehen der Berufe teilen. Denn so einfach ist nicht einmal das dümmste Publikum gestrickt, dass es nicht die Anbiederung, die ihm täglich widerfährt, genießen und zugleich verachten würde.

Wen wundert es da noch, dass auch unsere Blasmusikkapellen, deren Programme sich früher mit Märschen, Polkas, Walzern und Ouvertüren als Diener der großen österreichischen Musikkultur betrachteten, unter dem Ansturm des Kommerzes von Jahr zu Jahr immer mehr zum Opfer eines globalen Marktes trivialster Kompositionen wurden und inzwischen mangels musikhistorischer und musiksoziologischer Bildung ihrer künstlerischen Leiter fast vergessen haben, woher die österreichische Blasmusik kommt, worin ihre Aufgabe bestand und worin sie auch in Zukunft bestehen könnte. Und dies alles noch begleitet von den Bemühungen der Musikschulen, ihre Schüler mit kompositorischer Billigware bei der Stange zu halten, um sie nicht als profitable Ressource Hunderter Arbeitsplätze für Musiklehrer zu verlieren.


Kulturlosigkeit

Aus Ärger und Schmerz über die unglaubliche, von den stets situationselastisch agierenden Funktionären der Dachverbände niemals angeprangerte Kulturlosigkeit in den Programmen unserer heimischen Musikkapellen entstand gemeinsam mit Freundinnen und Freunden, welche die Blasmusik liebten wie ich, aber ihren Missbrauch und Niedergang ebenso ablehnten, die Idee zu den Innsbrucker Promenadenkonzerten, deren Gründungsbekenntnis von Anfang an klar ausformuliert war und nun, nach bald dreißig Jahren, immer noch Geltung besitzt.

Bereits zur Zeit der Wiener Klassik war es üblich, die Werke der Kunstmusik, wie sie in den Konzertsälen und Opernhäusern der Hauptstädte erklangen, bei abendlichen Serenaden einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Es versteht sich, dass kreative und ehrgeizige Kapellmeister danach strebten, dieses Repertoire bei strenger Einhaltung der formalen Rahmenbedingungen ihrer großen Vorbilder aus der Kunstmusik durch eigene Kompositionen zu bereichern. Dadurch entstand das Erbe der altösterreichischen Militär- und Blasmusik, das qualitativ gleichwertig neben der Unterhaltungsmusik, wie sie von Johann Strauß bis Franz Lehár meist für Streichorchester komponiert wurde, besteht und die historische Grundlage der österreichischen Blasmusikbewegung bildet.

An diesem kurzgefassten Programm der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die ich vor nunmehr 30 Jahren gründen, 25 Jahre lang zu einer inzwischen europaweit renommierten Konzertreihe aufbauen und vor fünf Jahren in die Verantwortung meines charismatischen Nachfolgers Bernhard Schlögl übergeben durfte, hat sich bis heute nichts geändert.


Millionenpublikum

Es verweist auf die Überzeugung, im akustisch grandiosen Innenhof der kaiserlichen Hofburg in Innsbruck den Nachweis erbringen zu können, dass mit künstlerisch hochwertigen Bläserkonzerten das Publikum in gleicher Weise begeistert werden kann, wie es unsere großen klassischen Orchester tun, wenn sie Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms, Bruckner oder Mahler spielen, ohne dass ihnen deshalb die vollgültige Zeitgenossenschaft als Künstler abgesprochen würde. Und es verweist auf die unbestreitbare Tatsache, dass dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker alljährlich Millionen am Fernsehschirm beiwohnen oder auch, dass ein André Rieu einen Platz in Maastricht dreimal füllen und mit der Unterhaltungsmusik vor allem des 19. Jahrhunderts – künstlerisch nicht immer lupenrein – das große Geschäft machen kann.

Es verweist vor allem aber auf die Überzeugung, dass die, wie erwähnt, von den Medien auf der Jagd nach Einschaltquoten im Dienste des Kommerzes bestärkten Vorurteile gegenüber der klassischen Kunst- und gehobenen Unterhaltungsmusik beim breiten Publikum dann abgebaut werden können, wenn es gelingt, einen niederschwelligen, kostengünstigen, distinktionsfreien Zugang zu ermöglichen und zugleich höchstkarätige Konzerte anzubieten. Konzerte, welche heute die Seelenlandschaften aller ausleuchten, und nicht nur einer Elite, von der, bevor der Staat subventionierend eingriff, aufgrund der stets teuren Aufführungspraxis über Jahrhunderte die Musikschaffenden ökonomisch abhängig waren.


Hochwertige Literatur

Der Erfolg der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die bei freiem Zugang in den besten Jahren von ca. 40.000 Personen frequentiert wurden, sollte also die heimischen Blasmusikkapellen dazu ermuntern, sich ihrer Geschichte, ihrer wahren Tradition und ihrer wichtigsten Aufgabe bewusst zu werden, jeweils in ihrer Region die Musikerinnen und Musiker mit den bedeutendsten Werken der österreichischen und europäischen Musikgeschichte bekannt zu machen, sofern sie sich für Bläsertranskriptionen eignen oder sogar als Originalwerke für Bläser vorliegen.

Hochwertige Literatur stünde dabei von stark bläserbetonten Werken der Renaissance und des Barock über französische und deutsche Revolutionsmusik bis hin zur Wiener Klassik und allen daraus folgenden spezifisch österreichischen Kompositionen ausreichend zur Verfügung.

Was diese erhoffte, eine ihrer geschichtlichen Entwicklung bewusste Programmgestaltung der Amateurkapellen betrifft, gelang es den Innsbrucker Promenadenkonzerten bei allen sonstigen Erfolgen allerdings nicht, hier eine positive Entwicklung in die Wege zu leiten. Ganz im Gegenteil: Das hohe und beispielhafte künstlerische Niveau der Konzerte im Innenhof der kaiserlichen Hofburg wird von sehr vielen aus dem Bereich der heimischen Musikkapellen geradezu als eine freche Zumutung empfunden, die mit Blasmusik im üblichen Sinn, wie das heißt, immer weniger zu tun hat.


Der braune Schatten

Solch eine Ablehnung ist auch eine Spätfolge der Tatsache, dass die österreichische Blasmusikbewegung erst in den letzten Jahren, also viel zu spät, aus dem braunen Schatten des Dritten Reichs und der diese Schatten virtuos verdrängenden Nachkriegszeit herausgetreten ist. Im Hinblick auf die Trachten etwa sei hier nur der Name der NS-Reichstrachtenbeauftragten Gertrud Pesendorfer genannt, von der das Design vieler im Übrigen sehr unpraktischer und schweißtreibender Adjustierungen stammt.

Und es sei nur an die über Jahrzehnte hinweg dominierenden und dem Nationalsozialismus nie abschwörenden Funktionärskomponisten Sepp Tanzer und Sepp Thaler erinnert, die, statt die hochkünstlerischen Werke emigrierter Komponisten wie Hans Gál, Ernst Toch, Ernst Pepping oder Arnold Schönberg nach dem Krieg wieder in Erinnerung zu rufen, lieber ihre eigenen Machwerke forcierten und in die Pflichtstückkataloge für Wertungsspiele aufnehmen ließen.

Statt also nüchtern auf eine fragwürdige Vergangenheit zurückzublicken und sich zu besinnen, wurden solch egomanische Praktiken auch von den Nachfolgern Tanzers und Thalers österreichweit weiter gepflegt, was zu einer Ansammlung von unbedeutenden Kompositionen und bei Seminaren zum Engagement von Vortragenden führte, die sich bei sehr überschaubarem eigenem Wissen als unterrichtende (Blas-)Musikstars aufspielten.


Hort einer Welt von Gestern

Selbst wenn eine korrekte Aufarbeitung der Vergangenheit jedoch unternommen worden wäre, bleibt noch immer die Tatsache bestehen, dass einer konkursreifen und im Totalitarismus ihrer unmenschlichen Dogmen befangenen Kirche mit unhinterfragter Selbstverständlichkeit weiterhin der musikalische Aufputz beigesteuert und die hohe Geistlichkeit selbst noch bei vielen weltlichen Konzerten wie in einem Gottesstaat vor allen gewählten Vertretern der Politik begrüßt wird.

Nicht zu vergessen, speziell in Tirol, die ebenso wenig hinterfragte Bereitschaft, sich für eine dumme populistische Identitätspolitik im Dienste einer intellektuell immer weiter verarmenden ÖVP etwa im Rahmen sogenannter Landesüblicher Empfänge zur Verfügung zu stellen, bei denen sich unser Land als eine machistische Horde belehrungsresistenter Dauer-Älpler präsentiert.

So politisch unsensibel sind allerdings nicht einmal die musikbegeistertsten Blasmusikanten, dass sie, vor allem wenn sie jung sind, nicht mitbekämen, wie sehr sie in ihrer Liebe zur Musik im sogenannten Jahreskreis für eine Welt von Gestern, für einen patriarchalen, katholischen, alkoholaffinen Geistessumpf instrumentalisiert werden. Viele wenden sich daher mit Grausen ab und verlassen die Musikvereine, sobald sie es mitbekommen. Viele treten erst gar nicht bei, obgleich sie gute Instrumentalisten wären.

Als städtische Weltbürger weigern sie sich, eine Tracht anzuziehen. Die anderen jedoch, welche die Musik und das gemeinsame Musizieren so sehr schätzen, dass sie es nicht missen möchten, unternehmen in Folge alles, um sich zumindest über die Programme, die sie bei den Konzerten aufführen, vom Verdacht des Missbrauchs zu befreien und sich als modern und auf der Höhe der Zeit zu präsentieren.


Modern erscheinen wollen

Die Kompositionen des altösterreichischen Kanons, die Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts, die wunderbaren und oft weltweit bekannten Märsche, aber auch Ouvertüren zu Opern und Operetten und all jene Werke, die bedeutende Komponisten aus der Welt der Bläsermusik zusätzlich zu diesen Werken beigesteuert haben und die nun wirklich niemanden in den Verdacht geraten lassen, er sei ein Monarchist, wenn er sie einstudiert oder spielt, werden, auch weil sie bei erster Durchsicht leicht, in Wahrheit jedoch schwierig zu spielen sind und gerade von den Kapellmeistern einiges an Können einfordern, als angeblich reaktionär, gestrig, da nebulos dem Missbrauch durch Politik und Kirche verbunden, ins Archiv geräumt und durch eine Selbstpräsentation ersetzt, die Modernität und Zeitgemäßheit vorspielt, jedoch gleich aus mehreren Gründen in der musikalischen Peinlichkeit endet.

Woher sollen auch Leute, die man nie in Orchesterkonzerten oder bei Opernaufführungen in den Landestheatern der Bundesländer sieht, wo auch Werke der klassischen Moderne und zuweilen sogar Werke lebender Komponisten aufgeführt werden, wissen, dass das Wesen der Moderne nicht aus weltmusikalischen Gamelan-Klängen, ein paar schrägen Akkorden und zusammengesetzten Taktarten besteht, sondern aus der grundsätzlichen Erkenntnis vom möglichen Unheil der Welt und damit von der Fragilität des Heils, in die Musik zu übertragen: der Fragilität der Harmonie. 

Diese Erkenntnis gilt nicht nur für die klassische Moderne, sondern auch für den Jazz bis hin zum Swing, dessen Hintergrundrauschen der Skandal der Sklaverei ist, was in ähnlicher Weise im Hinblick auf die Schande des Kolonialismus auch für die originäre südamerikanische Unterhaltungsmusik zutrifft.

So beflissen die Dirigenten unserer Musikkapellen bei Prüfungen den Tritonus heraushören sollten, so wenig sind sie, wie die meisten ihrer Prüfer, je hörend durch die Geschichte der abendländischen Musik gestreift und wissen daher auch nicht, weshalb die Jupiter-Symphonie Mozarts genial ist, eine x-beliebige Symphonie von Carl Ditters von Dittersdorf jedoch gleich einmal langweilig wirkt.

Ohne das lebenslange Hören der besten Werke der musikalischen Weltliteratur sind sie dem kompositorischen Plunder von auf Amateurorchester spezialisierten Verlagen und geschäftstüchtigen Komponisten gnadenlos ausgeliefert und fallen auf jeden platten Effekt herein. Vor allem jedoch darauf, zu meinen, man könne als Amateur, wenn dies fast schon für Profis kaum möglich ist, von Kultur zu Kultur, von Zeitepoche zu Zeitepoche, von Genre zu Genre, von Stilistik zu Stilistik springen und sich die jeweils sehr verschiedenen musikalischen Zugänge zur Welterfahrung, deren Ausdruck die Musik ist, mit ein paar Proben aneignen.


Der Vorwurf der Konservativität

In meiner Zeit als künstlerischer Leiter der Innsbrucker Promenadenkonzerte wurde mir immer wieder der Vorwurf gemacht, ich sei zu konservativ und nicht bereit, auch der Moderne einen würdigen Platz in den Programmen einzuräumen.

Einerseits ist dieser Vorwurf faktisch nicht zu rechtfertigen, da bei den Konzerten sehr oft Werke von Arnold Schönberg, Maurice Ravel, Paul Hindemith, Silvestre Revueltas, Igor Strawinsky, Dmitri Schostakowitsch bis hin zu Rolf Rudin, Ida Gotkovsky oder Ernst Ludwig Leitner und vielen anderen erklangen. Andererseits verdeutlicht allein die Nennung all der Namen, dass die meisten Kompositionen einer ernst zu nehmenden klassischen Moderne und der zeitgenössischen Musik in den meisten Fällen für Amateurorchester, wenn sie auch noch so exzellente Musiker in ihren Reihen haben, aufgrund ihres Schwierigkeitsgrads ungeeignet sind.

Was mir hier also als vermeintlicher Konservativismus ausgelegt wurde, ist in Wahrheit nur nüchterner Realismus.
Auch in der Kunst geht heute ohne umfassendes Wissen nichts. Der fehlende Geschmack und der Mangel an dramaturgischen Kenntnissen, wie ihn die meisten Programme der Musikvereine offenlegen, sind daher nicht nur eine Sünde am Publikum, sondern vor allem an der Jugend, werden doch all die Kenntnisse am Instrument, welche die jungen Musiker und Musikerinnen an meist ausgezeichneten Musikschulen vermittelt bekommen, durch minderwertige Musik in die vollkommen falsche Richtung gelenkt.


Die spirituelle Kraft

Die heute üblichen Programme unserer Musikkapellen bei ihren Frühjahrskonzerten und Platzkonzerten bestärken im Übrigen auch die musikalisch Gebildeten und vor allem die zweifelsfrei oft zu arrogant an der Hochkultur orientierten Medien in ihrem Vorurteil, die Blasmusik sei unerträglicher Unterschichtlärm. Leider wird sie inzwischen noch immer mehr dazu, medial bestärkt durch die Groteske eines sogenannten Woodstocks der Blasmusik, eine wahrlich kühne Begriffsperversion, wenn man auch nur die geringste Ahnung davon hat, was sich in Woodstock tatsächlich abgespielt hat.

Große Musik, ob es nun eine Symphonie, eine Ouvertüre oder auch nur eine böhmische Polka oder ein alpenländischer Walzer ist, ob geblasen, geschlagen, gezupft oder gesungen, verfügt stets über eine spirituelle Kraft, die man intensiv verspürt, ohne deshalb religiös sein zu müssen. Es reicht, das eigene Vegetativum dabei zu beobachten, wie es zur Ruhe kommt, der Blutdruck sich trotz anstrengenden Spiels senkt, die Seele sich erhellt und der Geist sich erfrischt, obgleich er nach einigen Stunden des Musizierens längst müde sein sollte.

Nur Meisterwerke entzünden im Menschen jene Begeisterung, die ihm zur Ausdauer verhilft, über Jahre hinweg ein Instrument zu erlernen und durch ständiges Üben den Standard des Könnens zumindest zu halten. Nur Meisterwerke und ihre gültige Aufführung halten einen Verein zusammen und verhindern, dass ihn seine tüchtigsten und intelligentesten Mitglieder frühzeitig verlassen. Und nur Meisterwerke überzeugen zuletzt ein Publikum davon, dass Blas- und Bläsermusik neben der Musik der klassischen Symphonieorchester und Amateurmusik neben der von Profis realisierten Musik ebenso ernst genommen und mit Genuss angehört werden kann.

Es ist also mitnichten ein überholter Bildungsauftrag, den aktiv Musizierenden und dem passiv zuhörenden Publikum nur Meisterwerke näherzubringen. Es gibt zum Glück so viele von diesen, dass für triviale Musik, deren Diagnostizierung Ergebnis einer ständigen und hitzigen Diskussion über Qualität sein sollte, kein Platz übrig bleiben darf.


Bilanz:


1. Da im Blasmusikwesen von der Förderung der Musikschulen über die Zuschüsse der öffentlichen Hand für den Ankauf von Instrumenten bis hin zum Bau von Vereinsheimen und Pavillons viel öffentliches Geld investiert wird, besteht kein Zweifel darüber, dass auch Musikvereine, sofern sie solche Mittel beziehen, einen Bildungsauftrag nach innen und außen zu erfüllen haben. Dies setzt jedoch zwangsläufig gebildete künstlerische Leiter und eine gebildete Vereinsführung voraus.

2. Da der Sprung von Kultur zu Kultur, von Genre zu Genre, wie schon gesagt, selbst für professionelle Orchester oft schwer zu bewältigen ist und besondere Kenntnisse voraussetzt, sollten jene Werke, die im eigenen kulturellen Umfeld entstanden sind und der jeweiligen Sozialisation am besten entsprechen, die Basis dessen bilden, was gespielt wird. Dies bezieht sich im Hinblick auf Österreich sowohl auf die großartige mitteleuropäische und altösterreichische Musikgeschichte als auch auf zeitgenössische Kompositionen, deren Qualität jedoch an den Kompositionen der Vergangenheit gemessen werden muss.

3. Durch eine solch neue Besinnung auf Tradition ist die Beschäftigung mit der globalisierten Unterhaltungsmusik nicht ausgeschlossen, wobei auch hier höchste Qualitätskriterien nicht nur im Hinblick auf die Auswahl der Werke, sondern auch auf ihre Realisierung anzuwenden sind. Gerade Werke, die von hervorragenden Musikern in ihren Originalversionen weltweit verbreitet und abrufbar sind, können, wenn sie von einer Musikkapelle ohne spezielles diesbezügliches Wissen und Können aufgeführt werden, zur Peinlichkeit werden.

4. Amateur zu sein bedeutet, nicht all das zu können, was ein Profi kann. Im Bereich dessen jedoch, was ein Amateur können kann, sollten Unterschiede zu den Leistungen professioneller Musiker nicht auffällig ins Gewicht fallen.

5. Ein Programm, das Meisterwerke bietet, die von Amateuren gültig aufgeführt werden können, und die, dramaturgisch klug aufgebaut, die Herzen des Publikums erreichen, ist die Herausforderung schlechthin für jede noch so große oder kleine, noch so leistungsstarke oder eher schwächer besetzte Musikkapelle und ihre künstlerischen Leiter. 

Und dieser Grundsatz gilt nicht nur für Amateure.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor und Journalist, lebt bei Innsbruck. Alois Schöpf schreibt seit 37 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 28 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Zahlreiche Veröffentlichungen, bei Limbus: Vom Sinn des Mittelmaßes (2006), Heimatzauber (2007), Die Sennenpuppe (2008), Platzkonzert (2009), Die Hochzeit (2010), Glücklich durch Gehen (2012), Wenn Dichter nehmen (2014), Kultiviert sterben (2015) und Tirol für Fortgeschrittene (2017). Zuletzt erschien in der Edition Raetia Bozen gemeinsam mit dem Fotografen und Regisseur Erich Hörtnagl "Sehnsucht Meer, Vom Glück in Jesolo", die italienische Übersetzung wurde zeitgleich präsentiert. Und es erschien, wieder bei Limbus, "Der Traum vom Glück, Ausgewählte Alpensagen". Schöpf ist auch Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte und leitete das erfolgreiche Bläserfestival fünfundzwanzig Jahre lang bis 2019.

Schreibe einen Kommentar