Alois Schöpf
Die missbrauchte Liebe
Blasmusik zwischen Propaganda und Kunst
Essay
1. Teil

Arrogante Vorbemerkung

Der Blasmusikverband Tirol feiert nächstes Jahr sein hundertjähriges Bestehen. Zu diesem Anlass soll nicht nur die Funktionärsriege des Dachverbandes erneuert werden, auch soll die gesellschaftliche Stellung der traditionsreichen Breitenkultur „Blasmusik“ neu überdacht werden. Dazu wurde eine sogenannte Reflexionsgruppe eingerichtet, deren Aufgabe es ist, die anstehenden Probleme aufzulisten und Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Es versteht sich, dass jemand wie ich, der als langjähriger Kapellmeister, Festivalleiter, Opernlibrettist und Musikschriftsteller zu den profundesten Kennern der Blasmusik in Österreich zählt, nicht eingeladen wurde, offenbar um den Frieden der ÖVP-Vorfeldorganisation Blasmusikverband nicht zu stören. Der Landesverband in Vorarlberg hat dies auf Anregung des langjährigen Landeskapellmeisters, Dirigenten und Konservatoriumsprofessors Thomas Ludescher erfreulicherweise anders gesehen, weshalb ich beauftragt wurde, zum dortigen Hundertjahrjubiläum eine Bestandsaufnahme in Sachen Blasmusik zu verfassen, die naturgemäß auch für Tirol zutrifft.

Der folgende Überblick, aufgeteilt auf drei Folgen, soll Zeugnis dafür ablegen, dass es auch in unserem Heimatland durchaus Leute gäbe, die wissen, wo die Blasmusik kulturell und soziologisch zu verorten ist. Niemand soll sagen können: Ich hab das aber nicht gewusst! Einen solchen Frieden der Unbildung ist unseren heimatlichen Trachtenkarajans nicht zu gönnen.


Sozialisation

Ich bin ein Gasthauskind und daher von frühester Jugend an mit Blasmusik aufgewachsen. Die Maskenbälle, die meine Mutter im Gasthof Wilder Mann in Lans veranstaltete, fanden vor meinem Kinderzimmer statt, in das man mich an solchen Abenden, mit einem Nachttopf versehen, einsperrte. Durch das Schlüsselloch sah ich zur Tribüne hin, die man über den Treppenaufgang in den ersten Stock gebaut hatte und auf der, späteren Erzählungen zufolge, sogar die Fidelen Inntaler des legendären Gottlieb Weißbacher aufspielten, die wohl letzte noch untadelige Tanzmusikformation, bevor die Kloake der elektronisch verstärkten volkstümlichen Musik über das Land hereinbrach und bei Zeltfesten, die zu Umsatzmaschinen degradiert wurden, durch ihre Lautstärke jegliches Gespräch unmöglich machte.

Etwas ganz Besonderes waren in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit auch die Abende, an denen wir Kinder länger aufbleiben und uns im Freien aufhalten durften, während die Dorfmusik gegenüber dem Eingang zum Gasthaus aufspielte und die Gäste aus der Stadt, an der Hauswand stehend oder sitzend, mit einem Glas Wein in der Hand, dem Platzkonzert lauschten und wir Kleinen in der Nachbarschaft Obst stahlen oder nicht genug darüber staunen konnten, wie weit sich die Ohren des Tuba-Spielers, des Hatzl-Bauern, bei jedem Ton auf und ab bewegten.


Am Dorf

Es versteht sich, dass ich sobald als möglich, wenn ich vom Jesuitengymnasium in Feldkirch nach Hause kam, meinen besten Freund Heinz, der Trompete spielte, zur Probe begleitete. Dort sorgte ich beim ersten Mal so lange für Misstöne, bis mir der erste Klarinettist das Instrument aus der Hand nahm, selbst hineinblies und feststellte, dass ich auf einer C-Klarinette spielte, die einen Ganzton höher liegt als die bei der Blasmusik üblichen B-Klarinetten.

Damals war übrigens noch an jedem Notenpult ein Aschenbecher angeschraubt, was einige Musiker dazu nutzten, um in den Pausen eines Stücks rasch einen Zug aus der Zigarette zu nehmen, sodass der Rauch, wenn sie wieder einsetzten, oben beim Schalltrichter, vor allem bei den Tenorhörnern, als kugelige Wolke zur Decke stieg.

Ich habe mir nie die Mühe gemacht, die Jahre, die ich als Klarinettist oder Dirigent Mitglied bei einer Musikkapelle war, zusammenzuzählen. Es sind inzwischen sicherlich über fünfzig. Ebenso alt ist auch meine innige Liebe zur klassischen Musik, die ich wie viele andere meiner Generation über das samstägliche Wunschkonzert des Regionalfunks, auch Erbschleicher-Sendung genannt, kennenlernte.


Die Erbschleicher-Sendung

Da wurde zu Geburtstagen, silbernen und goldenen Hochzeiten öffentlich gratuliert, aber auch nach Krankheiten wurden Genesungswünsche ausgesprochen, und dies alles, jeweils dem Geschmack der Adressaten angepasst, von den schönsten Melodien der klassischen Musik begleitet: dem Gefangenenchor aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi zum Beispiel oder der halsbrecherischen Tenorarie aus der Oper Der Postillon von Lonjumeau von Adolphe Adam, der Kleinen Nachtmusik von Wolfgang Amadeus Mozart oder dem Blumenwalzer aus dem Ballett Der Nussknacker von Pjotr Iljitsch Tschaikowski.

Zu dieser beginnenden Liebe gesellte sich auch eine Neugier, die sich aus der eigenartigen Marotte einiger meiner Familienmitglieder ergab, bei den ersten Tönen des täglichen Klassikkonzerts, das vom Regionalfunk nach 16.00 Uhr ausgestrahlt wurde, wie von der Tarantel gestochen vom Sofa aufzuspringen und, jede Widerrede ausschließend, zu befehlen: Schalte sofort dieses Gefiedel aus!

Durch mein Bemühen, der Ursache dieses rabiaten Hasses auf den Grund zu gehen, eröffnete sich eine Welt der Schönheit, die sich mir, sofern ich auf die sogenannten Musikflächen unserer derzeit um das jeweils niedrigste Niveau kämpfenden Radiosender angewiesen wäre, niemals erschlossen hätte. Die mit guten Gehältern, beruflicher Sicherheit und meist sogar einem Studium ausgestatteten Bediensteten unseres staatlichen Rundfunks haben es inzwischen unter dem Vorwand, der Masse des gebührenzahlenden Publikums dienen zu müssen, vollkommen vergessen, dem edlen, im Rundfunkgesetz leider viel zu schwammig formulierten Auftrag verbunden zu sein, die Menschen zur Kunstmusik hinzuführen. Sie haben diese gesetzliche Verpflichtung, um das Landvolk nicht weiter mit Kunst behelligen zu müssen, in den Hochkultursender Ö1 abgeschoben, dessen bildungsbürgerlich arroganter, politisch korrekter und penetrant distinktionsgeiler Impetus das sogenannte gemeine Volk berechtigterweise als unerträglich, weil als demütigend empfindet.


Herrschaftsmusik

Dies dürfte auch schon damals der Grund dafür gewesen sein, dass viele meiner Verwandten und Bekannten in einer Art archaisch-ruralen Denkens die klassische Musik als nicht zu ihnen gehörig, als Herrschaftsmusik, als die Musik einer die bäuerliche Welt seit Jahrhunderten verachtenden und ausbeutenden Elite, als höfisch korrupte Dekadenz ablehnten. Dass dieses intrinsische Vorurteil auch in demokratischen Zeiten nicht beseitigt, sondern geradezu opportunistisch bestärkt wurde, erweist sich als die tägliche kulturelle Niedertracht der Medien, die sicherlich Mitursache dafür ist, dass deren Mitarbeiter sich mit der Politik die untersten Ränge im Ansehen der Berufe teilen. Denn so einfach ist nicht einmal das dümmste Publikum gestrickt, dass es nicht die Anbiederung, die ihm täglich widerfährt, genießen und zugleich verachten würde.

Wen wundert es da noch, dass auch unsere Blasmusikkapellen, deren Programme sich früher mit Märschen, Polkas, Walzern und Ouvertüren als Diener der großen österreichischen Musikkultur betrachteten, unter dem Ansturm des Kommerzes von Jahr zu Jahr immer mehr zum Opfer eines globalen Marktes trivialster Kompositionen wurden und inzwischen mangels musikhistorischer und musiksoziologischer Bildung ihrer künstlerischen Leiter fast vergessen haben, woher die österreichische Blasmusik kommt, worin ihre Aufgabe bestand und worin sie auch in Zukunft bestehen könnte. Und dies alles noch begleitet von den Bemühungen der Musikschulen, ihre Schüler mit kompositorischer Billigware bei der Stange zu halten, um sie nicht als profitable Ressource Hunderter Arbeitsplätze für Musiklehrer zu verlieren.

Fortsetzung in einer Woche

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Alois Schöpf

Alois Schöpf, Autor, Journalist, Veranstalter, geb. 1950, lebt bei Innsbruck, schreibt seit 41 Jahren in Zeitungen und Zeitschriften, zuletzt seit 34 Jahren in der Tiroler Tageszeitung, pointierte und viel gelesene Kolumnen. Er ist einer der dienstältesten Kolumnisten Österreichs. Nach seiner Tätigkeit als ORF-Fernsehredakteur für Fernsehspiel und Unterhaltung verfasste Schöpf Romane, Erzählungen, Märchenbücher und in den letzten Jahren vor allem Essays zu relevanten gesellschaftlichen Themen. Daneben schrieb er Theaterstücke und vier Opernlibretti. Schöpf war auch als Blasmusikdirigent tätig und ist Gründer der Innsbrucker Promenadenkonzerte, die er 25 Jahre lang bis 2019 leitete. Zuletzt gründete er 2020 das Online-Magazin schoepfblog, an dem 40 renommierte Autorinnen und Autoren mitarbeiten.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Reinhold Knoll

    Lieber Herr Schöpf!
    Jeden Satz zur Blasmusik will ich in goldenen Lettern haben. Selten habe ich eine derartige Übereinstimmung gelesen, wie eben jetzt. Freilich näherte ich mich der Blasmusik anders als Sie. Sie hatten den Vorteil des Wirtshauses in Lans, meine Kindheit war von einer Großmutter bestimmt, die in Sankt Florian die Briefe Bruckners zu ihrer Großtante brachte.

    So waren die ersten Klaviernoten Diabelli gewesen – natürlich nach dem unterschätzten Cerny. Also ich komme von jener bürgerlichen Musikkultur her, die hier zu bewerten nicht der Platz ist, während Sie die Blasmusik schon in den Kinderohren hatten. Dass man Sie einsperrte, ist schrecklich, und ich verstehe es überhaupt nicht. Da war „mein“ Haushalt ungleich liberaler.

    Also meinen Weg zur Blasmusik verdanke ich Gustav Mahler. Immerhin war seine Einführung so nachhaltig, dass ich größten Spaß mit dieser Musik habe. Ich gestehe offenherzig, dass ich nicht nur am Wochenende, sondern auch werktags einen TV-Sender kenne, der alpine Kamerabilder mit Blasmusik „unterfüttert“. Drehe den Sender auf, stelle auf „laut“ und frühstücke nebenan – bei Blasmusik. Habe dabei mein Vergnügen, ärgere mich mit Ihnen, wenn diese Musik verhunzt wird. Also kann ich Ihre Zuneigung gut verstehen, auch wenn bei Erscheinen weiterer Frühstücksteilnehmer die Nase gerümpft wird, ja sogar der Apparat abgestellt wird: „Das hörst Du Dir an?!“

    Nun will und kann ich Ihre Ausführungen nicht kommentieren, denn zu sehr stimme ich überein. Ich würde am liebsten Zeile um Zeile abschreiben und zu meinen eigenen erklären. Bei Gustav Mahler war ich bald von dem Hinweis Adornos irritiert worden, der darin das Banale ländlicher Bevölkerung vermutete. Da war der Schritt vom Banalen zum Bösen nicht groß. Hanna Arendt meldete sich zu Wort, so bedurfte es meiner Begründung, warum ich diese Musik mag.
    Da rettete mich die Volksmusikforschung Bela Bartoks, die Ausflüge von Leos Janacek in den slowakischen Tänzen und die fein säuberliche Quellenedition musikalischer Aussagen bei Smetana.

    Wenn man hier die Spätromantik etwa so weglässt oder das „Aufgeblasene“ reduziert – frei nach Alfred Einstein – , dann hat man natürlich reine Freude am Beginn des dritten Satzes der Vierten von Bruckner. Und zum Glück war meine Liebe von Beginn an der Musik Haydns gewidmet – und der soll mir zeigen, wie er ohne Volksmusik ausgekommen wäre.
    Seine Erfindung des dritten Satzes in der Symphonie war eine gewaltige Steigerung musikalischen Ausdrucks. Immerhin verdanken die Deutschen ihre Hymne einem kroatischen Volkslied…in der Bearbeitung Haydns.

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